Die eisblaue Spur
Geologin einen kurzen Schrei aus und wurde feuerrot.
»Ich kann diese Hunde nicht ausstehen!«, schimpfte sie
und beschleunigte ihren Schritt. Die Gruppe schwieg; die meisten
beeilten sich, das drohende Bellen der Hunde hinter sich zu lassen.
Als sie in sicherer Entfernung waren, drehte sich Dóra um
und sah, dass die Hunde nun versuchten, trotz der Ketten
aufeinander loszugehen. Nirgends war ein Mensch in Sicht. Entweder
war in dem blau gestrichenen Haus niemand zu Hause, oder die Leute
waren daran gewöhnt, dass die Hunde ab und zu
losbellten.
Auf den letzten Metern vor dem
großen, wellblechverkleideten Schuppen gesellte sich der Arzt
zu ihr. Das rostige Blech klapperte im stärker werdenden Wind.
»Was machen wir, wenn die Autos nicht hier sind? Die
Dorfbewohner scheinen uns ja nicht gerade willkommen zu
heißen.«
»Wenn die Autos nicht
geklaut wurden, sind sie da drin.« Dóra beobachte
Friðrikka und Matthias, die sich über ein großes
Zahlenschloss an der Tür des Schuppens beugten. »Das
behauptet jedenfalls die Baufirma.« Sie blickte zurück
zu der Häuseransammlung. »Ich kann mir nicht vorstellen,
dass hier jemand ein Auto klaut. Die Polizei hätte ihn
spätestens nach einer halben Stunde gefasst.«
»Hier gibt es keine
Polizei«, rief Friðrikka. Es war ihnen gelungen, das
Schloss zu öffnen. »Die nächste Polizeistation ist
in Angmagssalik. Wegen eines Autodiebstahls fliegen die nicht mit
dem Hubschrauber hierher in den
Norden.«
Bella zündete sich eine
neue Zigarette an. »Wegen was denn
sonst?«
»Ich weiß nicht,
Mord vielleicht«, antwortete die Geologin trocken. »Ihr
dürft nicht denken, dass hier alles so läuft wie bei uns.
Im Gegenteil. Wenn ihr euch hier verirrt, sucht niemand nach euch.
Wenn ihr ins Meer fallt, fischt euch niemand raus. Hier seid ihr
nicht viel mehr wert als Tiere.« Friðrikka presste die
Lippen aufeinander und sagte nichts mehr.
Die anderen grinsten verlegen
und versuchten vergeblich, sich etwas Witziges einfallen zu lassen,
um die Stimmung aufzulockern. Matthias sprach noch nicht gut genug
Isländisch, um Friðrikkas Worte verstehen zu können.
Er hatte versucht, die Tür aufzumachen, aber ein Eisrand am
Türrahmen hinderte ihn daran. »Na, komm schon«,
murmelte er und zerrte kräftig an der Tür. Es knirschte
laut in den Angeln, und die Tür schwang auf.
Im Schuppen standen zwei
weiße Pick-ups. Dóra kannte Matthias gut genug, um zu
wissen, wie erleichtert er war. Neben den Pick-ups stand ein
gutausgerüsteter Ford Ecoline, der laut Eyjólfur den
grönländischen Behörden gehörte, damit die
Polizei oder andere Verwaltungsleute bei Bedarf ein Fahrzeug zur
Verfügung hatten. »Die Schlüssel müssten in
den Zündschlössern stecken«, sagte er dann.
»Wer will fahren?«
Auf der Fahrt durchs Dorf
spähte Dóra aus dem Fenster, in der Hoffnung, Menschen
zu sehen. Sie hatte ein ungutes Gefühl und wurde den Gedanken
nicht los, dass eine Seuche ausgebrochen sein könnte, die die
Dorfbewohner und die Mitarbeiter von Bergtækni dahingerafft
hatte. Plötzlich tauchten auf einem Weg zwischen den
Häusern zwei kleine Mädchen auf. Als sie die Autos sahen,
blieben sie sofort stehen und starrten die Insassen mit ihren
schwarzen Augen an. Sie schienen etwas jünger als Dóras
Tochter Sóley zu sein, vielleicht fünf oder sechs Jahre
alt, aber ihr Alter war schwer zu schätzen, denn sie steckten
in dicken Klamotten, die Hosenbeine in warmen Winterstiefeln
verpackt. Ihr blauschwarzes Haar, das unter den Kapuzen
hervorlugte, wurde vom Wind zerzaust. Dóra winkte ihnen
lächelnd zu, aber die Mädchen standen nur wie angewurzelt
da und verfolgten sie reglos mit den Augen. Das größere
Mädchen griff nach der behandschuhten Hand seiner Freundin.
Wenn hier wirklich eine Seuche ausgebrochen war, dann hatte
zumindest jemand überlebt. Ein weiteres Mädchen saß
auf einer Treppenstufe vor einem Haus am Ende des Dorfes, und am
Hafen standen zwei Erwachsene. Dóra reckte den Hals, um die
Mädchen besser sehen zu können, aber da waren sie schon
aus ihrem Blickfeld verschwunden. »Sollen wir versuchen, mit
den Leuten zu reden?«, fragte sie. »Ich habe am Hafen
jemanden gesehen.«
»Nein, wir fahren
weiter«, entgegnete Matthias. »Wir können ja
morgen herkommen. Vielleicht klärt sich alles auf, wenn wir
erst mal im Camp sind. Dann müssen wir die Dorfbewohner nicht
unnötig belästigen.«
Dóra drehte sich wieder
um. Hier gab es wirklich keinen
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