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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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nichts für jedermann.«
    Er hatte gut reden. Nach eigener
Aussage war er nur wochenweise im Camp gewesen, während andere
es über einen langen Zeitraum aushalten mussten. Aber
Dóra wollte die Geologin nicht in Schutz nehmen. Gut
möglich, dass sie eine hysterische Heulsuse war, die nur
irgendwelche Vorwände suchte, um ihre Kündigung zu
rechtfertigen. Dóra schaute wieder aus dem Fenster.
»Da kommt Rauch aus dem Schornstein. Das sieht doch gut
aus.«
    Friðrikka spähte hinaus
und nickte. »Ja, das Kraftwerk scheint wieder zu laufen. Ist
bestimmt zu spät zum Duschen, aber wer weiß. Hoffentlich
wurde das Kraftwerk absichtlich ausgeschaltet und das Wasser aus
den Leitungen gelassen. Aber zumindest müssen wir nicht hier
auf dem Boden schlafen.«
    »Warum sollten denn die
Duschen nicht funktionieren?«, fragte Dóra gereizt. Es
reichte ihr schon, weder Kaffee noch Cola trinken zu dürfen.
Bellas Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie
sich ähnlich fühlte.
    »Wenn das Camp
längere Zeit nicht mehr geheizt wurde und Wasser in den Rohren
friert, gehen die Leitungen kaputt«, antwortete
Friðrikka. »Es sei denn, jemand hat das Wasser laufen
lassen, aber da habe ich eben nicht drauf
geachtet.«
    »Scheiße.«
Eyjólfur war sauer. Mehr sagte er dazu nicht, trank nur
einen Riesenschluck Cola. Dann drehte er an dem Wasserhahn neben
der Kaffeemaschine und atmete erleichtert auf, als ein
kräftiger Wasserstrahl in die Spüle lief. »Dann
tut’s in diesem Haus wenigstens die
Klospülung.«
    Der Jäger Igimaq
beobachtete, wie vier Leute das große Gebäude
verließen. Drei Frauen und ein Mann, alle in bunten
Outdoorklamotten, die einen starken Kontrast zur Umgebung
darstellten. Trotz der dicken Kleidung und der Entfernung wusste
der Jäger sofort, dass die Frauen zu groß und zwei von
ihnen zu dünn waren. Und der Mann war ein hoffnungsloser Fall:
ziemlich groß, aber schwächlich und mager. So waren sie
alle, diese Westler. Sie verherrlichten Körper, die nichts
aushielten, und dies zeigte, dass sie jegliche Verbindung zur Natur
verloren hatten. Trotz ihrer Winterkleidung würden diese Leute
in kürzester Zeit umkommen, wenn sie dazu gezwungen
wären, sich in freier Natur auf eigene Faust ohne Schutz und
Unterkunft durchzuschlagen. Sie aßen garantiert Fleisch,
würden sich aber bestimmt ekeln, wenn er ihnen zeigte, wie
diese Nahrung beschafft wurde. Falls es ihm überhaupt
gelänge, mit ihnen im Schlepptau etwas zu jagen. Sie bemerkten
ihn ja noch nicht einmal, obwohl er sich nicht versteckte. Er stand
einfach nur ruhig da und ließ den Wind um seinen dick
eingepackten Körper fegen. Seine Augen waren von der Kapuze
geschützt, aber bei heftigen Böen musste er dennoch ab
und zu blinzeln. Er beobachtete, wie die Leute zu dem anderen
Gebäude hinübergingen. Dort standen noch mehr, er glaubte
zwei Männer und eine Frau zu erkennen. Sie wechselten ein paar
Sätze miteinander, aber Igimaq verstand kein Wort. Er konnte
Dänisch, hatte aber Schwierigkeiten, sich in dieser Sprache
verständlich zu machen, nicht, weil er die Worte nicht wusste,
sondern weil sie nur annähernd das beschrieben, was er
ausdrücken wollte. Die Unterhaltung erstarb, und er sah die
Gruppe ins Haus gehen. Kurz darauf wurde ein Licht nach dem anderen
eingeschaltet. Igimaq stand weiter reglos da, obwohl er beunruhigt
war. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten.
    Der Jäger drehte sich um
und ging. Es war zwecklos, noch länger hier stehen zu bleiben.
Er hatte den Hubschrauber gehört und wollte nachsehen, wer auf
dem Weg ins Camp war. Die Lage war schlecht, würde sich aber
auch nicht bessern, wenn er jede Bewegung der Fremden beobachtete.
Im freien Gelände waren sie schutzlos, aber drinnen kannten
sie sich aus. Igimaq konnte daran ebenso wenig ändern wie an
anderen Dingen im Leben; sie nahmen einfach ihren Lauf. Das
Schicksal war unergründlich, und es war schwer, das zu
akzeptieren. Niemand wusste das besser als er. Dinge, die dem
Menschen wichtig waren, ähnelten den Sonnenstrahlen –
während man sie noch genoss, verschwanden sie schon wieder.
Man bekam etwas, nur um es wieder zu verlieren. Dem Jäger
waren all die Dinge, die im Laufe der Jahre aus seinem Leben
verschwunden waren, ziemlich gleichgültig. Es würde nicht
mehr lange dauern, bis dasselbe für seine Familie galt.
Vielleicht war sie ihm schon gleichgültig. Igimaq war sich
nicht sicher; es fiel ihm schwer, über ihr Schicksal
nachzugrübeln. Er versuchte, nicht an die Zeit zu

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