Die eisblaue Spur
jetzt vielleicht auch.«
»Ich kann mir kaum
vorstellen, dass die Bergtækni-Leute verhungert sind«,
entgegnete Dóra. »In der Küche sind jede Menge
Lebensmittel.« Der Arzt hatte ihnen nicht nur verboten,
Kaffee zu trinken, sondern auch irgendetwas zu essen, das sie nicht
selbst mitgebracht hatten. Dóra hatte sämtliche
Lebensmittel aus ihren Kisten markiert, damit nichts
durcheinandergeriet. Das war allerdings kein reiner Akt der
Hilfsbereitschaft, sondern sie war neugierig, was Matthias
eingekauft hatte, und es machte tatsächlich einen
vernünftigen Eindruck.
»Jedenfalls sind die
Dorfbewohner damals verhungert«, sagte Bella und drehte das
Buch zu Dóra. Die aufgeschlagene Seite trug die
Überschrift Kaanneq und zeigte ein paar Fotos und einen kurzen
Text. Die Fotos waren schwarzweiß, alle bis auf eines,
offenbar ein wesentlich jüngeres. Darauf sah das Dorf so
ähnlich aus wie heute: eine Ansammlung bunter Holzhäuser.
Auf den älteren Bildern waren wesentlich weniger Häuser
zu sehen. Alle Fotos waren aus derselben Perspektive aufgenommen:
das Dorf in dem schmalen Fjord mit den einfachen Hafenanlagen vor
einer kargen, schneebedeckten Winterlandschaft. Anscheinend hatten
sich die Dorfbewohner früher mehr draußen aufgehalten,
denn auf den alten Bildern waren Leute in traditioneller Kleidung
aus Seehundfell zu sehen. Das älteste Foto stammte aus dem
Jahr 1940. Das Buch zeigte also nicht das ursprüngliche Dorf,
von dem Bella gesprochen hatte.
Dóra überflog den
Text. Die ersten Landnehmer waren vor etwa zweitausend Jahren nach
Ostgrönland gekommen. Darauf folgten weitere Landnahmen, und
jedes Mal lief die Sache gleich ab: Niemand hielt es in dieser
unwirtlichen Gegend lange aus. Erst im achtzehnten Jahrhundert
entstanden an der Ostküste Siedlungen, doch im neunzehnten
Jahrhundert verringerte sich die Einwohnerzahl wieder. Ein Dorf
nach dem anderen wurde verlassen, die Siedler wurden von Hunger und
Elend dahingerafft oder waren gezwungen, an die Westküste zu
ziehen, wo die Bedingungen besser waren. Erst verließen sie
die nördlichsten Dörfer, dann die südlicheren. Am
Ende war Angmagssalik die einzige bewohnte Ortschaft an der
gesamten Ostküste. Dóra lief ein Schauer über den
Rücken, als sie an die armen Leute dachte. Am meisten
bemitleidete sie die Frauen, die unter Entbehrungen Kinder
großziehen mussten, bei beißender Kälte und
Hunger.
Der Kampf ums Überleben war
ungeheuer hart. Als ein dänischer Forscher 1830 nach
Angmagssalik kam, lebten dort etwa vierhundert Menschen. Sechzig
Jahre später zählte ein anderer Forschungsreisender nur
noch dreihundert Einwohner. Er ging davon aus, dass der Ort bald
verlassen sein würde, wenn sich nicht schnell etwas
änderte. Daraufhin beschlossen die Dänen, trotz
schwieriger Verkehrswege zu Lande und zu Wasser, in
Ostgrönland eine Kolonie zu errichten. 1894 gründeten sie
in Angmagssalik eine Missionars- und Handelskolonie,
Säuglingssterblichkeit und Ernährungsmängel gingen
drastisch zurück. Zwanzig Jahre später hatte sich die
Bevölkerung verdoppelt, und kurz nach dem Ersten Weltkrieg gab
es so viele Einwohner, dass die Jagd nicht mehr ausreichte, um alle
zu ernähren. Man beschloss, knapp tausend Kilometer weiter
nördlich in Scorebysund eine neue Siedlung zu gründen und
die Einwohner dazu zu ermuntern, dorthin zu ziehen. Noch bevor es
dazu kam, machten sich zehn Familien auf in den Norden. Und so
begann die Geschichte des kleinen Dorfes Kaanneq.
Die zehn Familien zogen im
Sommer 1918 los, und erst im Herbst hörte man wieder von
ihnen. Zu dem Zeitpunkt lief alles gut, die Jagd war ertragreich,
und die Leute hatten Behausungen errichtet. Ein dänischer
Arzt, der das kleine Dorf bereiste, schrieb in seinem Bericht, die
Bewohner seien gut genährt, Kinder und Erwachsene wohlauf und
zwei Frauen schwanger, eine kurz vor der Niederkunft und die andere
im fünften Monat. Der Arzt sah keinen Grund zur Besorgnis,
hielt es jedoch für ratsam, zweimal im Winter die Lage zu
überprüfen. In Begleitung eines einheimischen
Führers machte er eine erste Kontrollfahrt mit dem
Hundeschlitten. Sie blieben zwei Tage in der neuen Siedlung, und
der Arzt fand den Zustand der Leute immer noch zufriedenstellend,
obwohl die Vorräte etwas geringer waren als im Herbst geplant.
Das erste Kind, ein Junge, war auf die Welt gekommen und
entwickelte sich gut. Die Geburt des zweiten Kindes stand kurz
bevor. Bei der nächsten Kontrollfahrt sollte die
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