Die eisblaue Spur
erwachsenen
Kinder, die vergeblich hergekommen waren, nicht retten. Er musste
sich darauf konzentrieren, den Hund zu retten. Der Hund war
für den Jäger wichtiger.
6.
Kapitel
20. März 2008
Erschöpft wachte
Dóra auf. In der Nacht war sie mehrmals aufgeschreckt,
obwohl absolute Stille herrschte. Vielleicht gerade deshalb; sie
war diese Stille nicht gewöhnt.
Nach der Nacht auf der
dünnen Matratze in dem schmalen Bett, das sie mit Matthias
geteilt hatte, war sie zwar müde und erschlagen, aber
dafür war ihr Kater verschwunden. Ihr Kopf war klar und ihre
Zunge nicht mehr pelzig und aufgedunsen. Sie erinnerte sich
undeutlich daran, dass Matthias sie angestoßen und gesagt
hatte, er würde früh aufstehen. Er musste ungefähr
vor einer Stunde das Zimmer verlassen haben. Jetzt war es kurz nach
sieben – für Dóras Verhältnisse verdammt
früh. Um sechs Uhr aufzustehen war hingegen völlig
hirnrissig und lediglich entschuldbar, wenn man frühmorgens
zum Flughafen musste. Dóras Kater war zwar weg, aber sie
wollte den Tag lieber nicht damit beginnen, ihren Koffer
aufzumachen und herauszufinden, was sie eingepackt hatte. Das
konnte warten.
In der Nacht war das Wetter
ruhig gewesen, und da draußen nur ein leichter Wind wehte,
hatte der angekündigte Sturm offenbar noch nicht begonnen.
Dóra hoffte, dass sich das Wetter halten würde, denn
niemand aus der Gruppe wollte länger als nötig im Camp
bleiben. Sie schüttelte sich bei der Vorstellung, zusammen mit
diesen Leuten tagelang eingesperrt zu sein. Im Grunde hatte sie
nichts gegen ihre Mitreisenden – bis auf Bella vielleicht
–, aber mit ihnen gemeinsam von der Außenwelt
abgeschnitten zu sein wäre bestimmt nicht leicht. Vor allem,
wenn der Arzt sein Kaffeeverbot aufrechterhielt. Matthias hatte
verständlicherweise nicht daran gedacht, Wasser mit nach
Grönland zu nehmen. Als der Arzt ihn nach den
Wasservorräten fragte, antwortete er zerknirscht, er sei davon
ausgegangen, dass sie Schnee schmelzen würden, wenn ihnen das
Wasser ausginge. Außerdem hätte er jede Menge Milch,
Saft und Softdrinks dabei. So frühmorgens hätte
Dóra allerdings lieber Kaffee als Cola getrunken. Ein
Hoffnungsschimmer tat sich auf, als aus der Küche frischer
Kaffeeduft drang, aber im Essraum saß leider nur Bella.
Dóra focht einen kurzen inneren Kampf mit sich aus, ob sie
auf dem Fuß kehrtmachen und auf dem Weg zum
Bürogebäude eine Handvoll Schnee zu sich nehmen oder das
Verbot des Arztes brechen und sich in Bellas Gesellschaft eine
Tasse Kaffee genehmigen sollte. Das Verlangen nach Koffein war
stärker.
»Hier kann echt keine Sau
schlafen«, murmelte Bella, als Dóra ihr auf dem Weg
zur Kaffeemaschine guten Morgen wünschte, »die Betten
sind das Allerletzte, und es ist
scheißkalt.«
»Ich habe gerade
überlegt, warum du in aller Herrgottsfrühe schon auf
bist, wo du doch normalerweise Probleme hast, um neun in der
Kanzlei zu sein«, sagte Dóra und nahm eine Tasse.
»Vielleicht solltest du dir so ein Bett wie hier und eine
Klimaanlage anschaffen.«
»Oder ein Bild von dir
vergrößern lassen und es mir übers Bett
hängen«, entgegnete Bella, den Mund voll mit Cornflakes.
»Das würde aufs selbe hinauslaufen.«
Darauf fiel Dóra leider
keine passende Entgegnung mehr ein. »Weißt du, was du
nachher machen sollst?«
»Irgendeinen Mist
protokollieren«, brummte die Sekretärin. Sie
blätterte in einem verschlissenen Buch und schaute nicht auf,
als Dóra sich mit ihrem dampfenden Kaffee zu ihr an den
Tisch setzte. »Hoffentlich ist es im Büro wärmer
– mit Handschuhen kann ich nicht tippen.«
»Drüben ist es viel
wärmer. Es ist nur so kalt hier, weil es so lange dauert, das
ganze Haus aufzuheizen. Im Bürogebäude ist die Heizung ja
nicht ausgefallen.« Dóra nippte an ihrem Kaffee.
»Was liest du da?«
»Was über
Grönland«, sagte Bella und blätterte weiter.
»Das lag auf dem Tisch mit den Zeitungen im Flur. Ist zwar
nicht besonders spannend, aber besser als uralte
Illustrierte.« Dóra betrachtete das Buch und hatte so
ihre Zweifel. Den Fotos nach zu urteilen war es sehr alt.
Unglaublich, wie schnell diese populären Fachbücher
lächerlich wirkten. »Weißt du zum Beispiel, was
der Name von diesem armseligen Dorf bedeutet?«, fragte Bella
und schaute endlich auf.
»Kaanneq? Ich schätze
mal, Ende der Welt oder so.«
»Nein, es bedeutet
Hunger.« Bella zog die Cornflakespackung zu sich hin.
»Angeblich sind die ersten Dorfbewohner alle verhungert. So
wie
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