Die eisblaue Spur
Entwicklung
des zweiten Kindes überprüft werden.
Aber dazu kam es nicht mehr.
Drei Monate später, Mitte Februar, machte sich ein
Assistenzarzt mit demselben Führer auf den Weg. Man hörte
nie wieder etwas von ihnen. Es war nicht bekannt, ob die beiden auf
dem Hin- oder Rückweg umkamen und ob sie die Siedlung
überhaupt erreichten. Von Männern und Hunden fehlte jede
Spur. Allerdings wurde auch nicht nach ihnen gesucht, denn in
dieser Gegend würde mitten im Winter ohnehin niemand
überleben.
Ein paar Jäger aus
Angmagssalik erzählten, sie hätten auf dem Eis zwischen
ihrem Ort und der neuen Siedlung zwei Männer aus Kaanneq bei
der Jagd gesehen, aber diese seien vor ihnen zurückgewichen.
Die Jäger glaubten, die Männer seien vor ihnen geflohen
und hätten den Kontakt zu ihren ehemaligen Nachbarn gemieden.
Bis auf dieses Ereignis wurde kein einziger Bewohner von Kaanneq
mehr lebendig gesehen. Im Frühjahr machten sich drei
Männer auf den Weg in das abgelegene Dorf, um Seehundfelle zu
kaufen. Als sie dort ankamen, waren alle Bewohner an Krankheit oder
Hunger gestorben. Die Händler fanden ein paar Leichen in den
Zelten, aber bei näherer Untersuchung stellten sie fest, dass
einige Personen fehlten. Sie nahmen an, dass diese noch begraben
worden waren, bevor der Hunger alle gelähmt hatte. Trotz
ausgiebiger Suche wurden ihre Gräber jedoch nie gefunden. Die
meisten der herumliegenden Toten waren Frauen und Kinder.
Wahrscheinlich hatten sich die Männer bei der Jagd immer
weiter von der Siedlung entfernt und waren in der rauen Natur
umgekommen. Als fast nur noch Frauen und Kinder in der Siedlung
zurückblieben, brach die Hungersnot aus. Die Berichte von der
Fahrt ängstigten die Einheimischen und blieben ihnen lange im
Gedächtnis haften, zumal Fotos gemacht worden waren, die das
Grauen dokumentierten. Aber die Inuit hatten andere
Erklärungen für die Vorfälle als die Dänen. Sie
glaubten, ein Tupilak sei für die Todesfälle
verantwortlich. Im Text wurde nicht erklärt, was das war, und
Dóra glaubte, es handele sich um eine Art Sturm oder
Unwetter. Außerdem blühten unter den Einheimischen
Geschichten über die Seelen der Toten, die dort hungrig
umherschweiften und jeden, der ihnen über den Weg lief,
auffraßen. Die gesamte Geschichte der Gegend drehte sich um
die Furcht vor dem Verhungern, und als das heutige Dorf an
derselben Stelle errichtet wurde, hallten die alten Ereignisse
immer noch nach. Deshalb wurde das Dorf Kaanneq – Hunger
– genannt.
»Tja«, murmelte
Dóra ganz matt vom schnellen Lesen. »Ob es irgendwo
härtere Lebensbedingungen gibt als hier?«
Bella zuckte mit den Achseln und
stand auf. »Vielleicht in irgendeiner kochend heißen
Wüste. Aber da bekommt man wenigstens ein bisschen
Farbe.« Sie nahm ihren Teller und stand vom Tisch auf.
»Ich hoffe, wir reisen so bald wie möglich wieder
ab.«
Als Dóra das Buch
zuklappte, sah sie auf dem Umschlag einen jungen
Grönländer. Der Mann lächelte den Fotografen offen
an, mit tiefen Lachfältchen um die schrägstehenden Augen.
Er sah stolz aus und wirkte nicht so, als würden die in dem
Buch beschriebenen Ereignisse seine Lebensfreude mindern.
Dóra trank ihre Tasse leer und lauschte auf den immer
stärkeren Wind.
Der Weg zum
Bürogebäude war kurz, aber Dóra war trotzdem froh,
als sie die Tür hinter sich zuzog. Die Windböen wirbelten
den Schnee auf, so dass Bella und sie sich vorkamen wie in einem
Sandsturm. Während sie ihre Jacken auszogen, verschlechterte
sich das Wetter innerhalb kürzester Zeit erheblich.
Dóra kannte die Launen des Windes, seit sie auf der
Halbinsel Seltjarnarnes wohnte. Dort war es allerdings nicht so
kalt, dass sie ihr Gesicht vor dem schneidenden Frost schützen
musste.
Matthias war allein im
Bürogebäude. Entweder schliefen die anderen noch, oder
sie waren draußen, um die beiden Männer zu suchen oder
den Stand des Projekts zu kontrollieren. Dóra hoffte, dass
sie wegen des Wetters davon Abstand genommen hatten. Der Gedanke,
dass Matthias, Bella und sie einen Suchtrupp bilden müssten,
gefiel ihr gar nicht. Sie zog ihre Schuhe aus und hängte ihren
Anorak auf. »Matthias!«, rief sie durch den Flur.
»Wir sind da!«
»Wer ist bei dir?«,
rief er aus einem der Büros zurück.
»Bella«, antwortete
Dóra und folgte seinem Rufen. Die Frage kam ihr
merkwürdig vor. »Warum? Bist du nackt?« Bei der
Vorstellung musste sie grinsen.
»Weißt du, wo der
Arzt ist?«, rief Matthias, ohne auf Dóras
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