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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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Witz
einzugehen. Er sprach ungewöhnlich laut, obwohl Dóra
schon in der Tür stand. »Entweder er schläft noch
oder er ist rausgegangen. Aber du hättest bestimmt was
gehört, wenn er weggefahren wäre. Er wird ja wohl kaum zu
Fuß gegangen sein.« Matthias antwortete nicht, sondern
beugte sich weiter über eine Schreibtischschublade.
»Warum fragst du? Hast du was gefunden?«
    Matthias richtete sich auf.
»Ich bin ja kein Knochenspezialist, aber das da stammt
garantiert von einem Menschen.« Er zeigte in die Schublade.
»Keine Ahnung, ob das was mit den verschwundenen Männern
zu tun hat. Das wird uns hoffentlich der Arzt sagen
können.«
    Neugierig trat Dóra
näher. »Verstehe.« Schnell entfernte sie sich
wieder von der Schublade. »Wir wecken ihn wohl
besser.«

7.
Kapitel
    20. März 2008
    »Der stammt nicht von
einem der Männer.« Der Arzt nahm die Brille ab und
streckte sich. Er hatte in Anwesenheit von Dóra und Matthias
den Schädel untersucht. »Wahrscheinlich von einer
Frau.«
    »Woher weißt du
das?«, fragte Dóra. Der Schädel und der Kiefer
hatten wirklich nichts Feminines. »Haben Frauen kleinere
Köpfe?« 
    »Ja, aber ausgehend von
der Größe lassen sich schwer Schlüsse
ziehen.« Finnbogi setzte die Brille wieder auf und zeigte
ihnen den Kiefer. »Weibliche Kiefer sind runder als
männliche. Bei einem Mann wäre der vordere Teil, also das
Kinn, wesentlich eckiger.« Er legte den Kiefer wieder weg,
nahm den Schädel in die Hand und strich mit dem Zeigefinger
über die Fläche oberhalb der Augenhöhlen. Bei der
Berührung mit dem Latex-Handschuh entstand ein kratzendes
Geräusch. »Außerdem steht der Knochen im Bereich
der Augenbrauen weniger vor als bei einem Mann. Die Brauen sind so
geformt, dass es eine Frau sein muss.« Vorsichtig legte er
den Schädel auf den Tisch und nahm die Brille ab.
»Knochen sind zwar nicht mein Spezialgebiet, aber ich habe
das mal im Studium gelernt. Gut möglich, dass Spezialisten zu
einem anderen Ergebnis kommen.« Er lächelte und
fügte hinzu: »Aber ich bezweifle es. Ich war der Beste
meines Jahrgangs.«
    Das genügte Dóra.
Bis jemand das Gegenteil beweisen würde, stammte dieser
Schädel von einer Frau. »Könnte er von der
verschollenen Frau sein? Von der Geologin?«
    Über diesen Vorfall war der
Arzt nicht informiert. »Tja, was war das denn für eine
Frau, und wann ist sie verschwunden?«
    »Sie hat hier für
Bergtækni gearbeitet. Man nimmt an, dass sie sich verirrt hat
und draußen umgekommen ist. Das war vor einem halben Jahr,
und da sie nie gefunden wurde ...« Dóra starrte in die
leblosen Löcher der Augenhöhlen. »Aber wie soll ihr
Schädel in eine Schreibtischschublade
kommen?«
    »Mach dir darüber
keine Gedanken«, sagte der Arzt nachdrücklich.
»Dieser Schädel stammt nicht von einer Frau, die sich
vor sechs Monaten verirrt hat. Bei den hiesigen Verhältnissen
können Knochen in dieser Zeit nicht so sauber werden, und ihre
Kollegen werden den Schädel wohl kaum gesäubert haben.
Das wäre jedenfalls ziemlich heftig. Wenn der Schädel von
einem kürzlich Verstorbenen stammen würde, müsste er
meiner Meinung nach auch weißer sein.«
    »Aber woher kommt dieser
Schädel dann?« Matthias musterte die Knochen und presste
die Lippen aufeinander.
    »Tja, ich denke, aus der
Erde. Die Oberfläche ist mit kleinen Rissen und
Verschmutzungen überzogen. Das könnten Spuren von
Zähnen oder Klauen kleinerer Tiere sein.« Der Arzt
zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob den jemand
gefunden oder einfach im Internet gekauft hat. Da gibt es ja die
unglaublichsten Dinge. Gegen Ersteres spricht allerdings, dass der
Kiefer dabei ist. Wenn die Leiche irgendwo draußen gelegen
hat, müssen Tiere sie aufgestöbert und die Knochen
verteilt haben. Ich vermute, der Schädel war entweder in der
Erde vergraben oder wurde im Internet
gekauft.«        
    »Du meinst, man ist aus
Versehen auf ein Grab gestoßen?«, fragte Dóra
skeptisch. »Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass es
hier Gräber gibt. Das ist ziemlich weit von der Siedlung
entfernt. Bevor das Projekt anlief, war hier gar nichts. Wer sollte
sich denn hier in der Einöde beerdigen
lassen?« 
    »In diesen Gefilden wird
ohnehin nichts in der Erde vergraben – hier gibt es keinen
Erdboden.« Der Arzt verschränkte die Arme und nickte mit
dem Kinn in Richtung Schädel. »Man bestattet die Toten
in Grabhügeln. Ich vermute, sie werden vorher in ein Tuch
eingewickelt oder in eine Kiste

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