Die eisblaue Spur
Caprihose, die sie wahrscheinlich einfach
hineingeworfen hatte, weil sie ihr so gut stand, diverse Röcke
und Kleider sowie ein Pashmina-Schal mit Glimmer, den ihre Eltern
ihr von einer ihrer zahlreichen Reisen auf die Kanarischen Inseln
mitgebracht hatten. Dóra hatte den Schal noch nie angehabt
und würde ihn auch nie anziehen, vor allem nicht hier. Nach
längerem Wühlen fand sie immerhin eine Jeans und einen
dicken Pulli, mit dem sie sich nicht lächerlich machte.
Darunter trug sie eine Seidenbluse.
Dóra putzte sich im
Gemeinschaftsbad mit abgekochtem Wasser aus einem Topf die
Zähne. Dabei starrte sie die trockenen, glänzenden
Duschköpfe an, die herausfordernd zurückstarrten. Der
Spiegel bot keinen schönen Anblick – Dóras Haar
war am Ansatz fettig, und sie hatte schwarze Mascararinge unter den
Augen. Schnell stibitzte sie ein paar Tropfen abgekochtes Wasser,
wusch sich das Gesicht, und nachdem sie sich die Wimpern neu
getuscht hatte, konnte sie sich wieder sehen lassen. Auf dem Weg
durch den Flur begegnete sie Eyjólfur mit einer
Zahnbürste in der Hand. Er sah genauso schlimm aus wie sie vor
ein paar Minuten. Trotzdem lächelte er und sprach sie an:
»Ich habe gestern ganz vergessen, dir was zu sagen. Ich habe
Bjarkis Anorak und Stiefel im Vorraum des Bürogebäudes
gesehen.«
Dóra versuchte, sich den
Vorraum ins Gedächtnis zu rufen. Sie erinnerte sich an einen
Haken mit zwei identischen Anoraks und an ein paar schmutzige
Overalls. Der Boden war mit Schuhen bedeckt gewesen,
überwiegend gefütterte Arbeitsstiefel mit Stahleinsatz.
»Ist die Kleidung markiert? Ich meine, woher weißt du,
dass das seine Sachen sind?«
»Ja, sie ist
markiert.« Eyjólfur strich sich durchs Haar, wodurch
sich sein Aussehen auch nicht besserte. »Bergtækni
stellt allen Anoraks und Schutzkleidung zur Verfügung. Ich
habe natürlich keinen Overall gebraucht, aber der Anorak und
die Winterstiefel waren sehr nützlich. Weil wir alle
identische Jacken anhatten, haben wir alles markiert. In einem der
Anoraks an der Garderobe steht Bjarki. Und seine Winterstiefel sind
auch da.«
Dóra nickte.
»Könnte er nicht aus Versehen den Anorak von jemand
anderem angezogen haben?«
»Nein, bestimmt nicht.
Diejenigen, die nach Hause gefahren sind, haben ihre Anoraks
mitgenommen, und der einzige Extra-Anorak hängt noch an der
Garderobe. Der ist übrig geblieben, als ein Mitarbeiter kurz
nach Projektbeginn gekündigt hat.« Dóra schaute
ihn neugierig an, und er fügte hastig hinzu: »Das war
ein älterer Mann, der mit dem Wetter nicht klargekommen ist.
Nichts Ungewöhnliches. Eigentlich unglaublich, wie wenig
Fluktuation hier war. Soweit ich weiß, bleiben die Leute nie
lange an solchen Arbeitsplätzen.« Er lächelte ihr
wieder zu. »Egal, was Friðrikka sagt, Bergtækni ist
ein sehr seriöser Arbeitgeber, dem man vertrauen kann. Es
wäre völlig absurd, den Chef einzufliegen, damit er an
der Suche nach einer Vermissten teilnehmen kann. Das sagt nichts
darüber aus, wie er zu seinen Mitarbeitern
steht.«
»Trotzdem wollen alle
aufhören.« Dóra musterte ihn. »Außer
dir, oder wie?«
Eyjólfurs Lächeln
verschwand. »Die sollen mal lieber vorsichtig sein. Ich
arbeite natürlich nicht direkt bei Bergtækni, ich mache
nur Kundendienst. Mein Arbeitgeber ist mit den
Computerangelegenheiten für Bergtækni
beauftragt.«
»Hast du auch die
Klamotten von dem anderen Bohrmann gesehen? Von
Halldór?«, fragte Dóra, bevor sie weiter zum
Frühstück ging.
»Nein. Weder im
Bürogebäude noch hier im Vorraum.« Er knabberte an
der Innenseite seiner Wange. »Hoffentlich bedeutet das, dass
Halldór lebend hier weggekommen ist. Allerdings habe ich
nicht in seiner Wohnung nachgeschaut.«
»Hoffen wir mal, dass er
die Sachen anhat.« Ohne Winterklamotten bestand für den
Mann wenig Hoffnung.
Eyjólfurs Gesicht hellte
sich plötzlich auf. »Hast du schon von der Spur
gehört?«
»Was für eine
Spur?«
Ȁh, ich hab gerade
diesen Rettungstypen getroffen. Er hat heute Morgen eine Spur
entdeckt, die von hier zu Oddný Hildurs Haus führt.
Jemand hat den Schnee an der Hauswand weggeschaufelt und vielleicht
was unter dem Haus ausgegraben.«
»Was sollte das
sein?«
»Keine Ahnung. Es muss
letzte Nacht oder ganz früh morgens passiert sein. Alvar war
als Erster auf den Beinen, und da hat er die Spur
gesehen.«
Dóra erinnerte sich an
das Geräusch auf dem Flur. »Konnte er erkennen, von wem
die Spur war? Wir haben ja alle
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