Die eisblaue Spur
innen war die Hütte viel
größer, als sie von außen aussah, und alle fanden
darin Platz. Es gab einen kleinen Küchentisch mit zwei
Stühlen, die Wände waren mit Regalen voller Holzkisten
bedeckt. Laut Friðrikka wurden darin die Bohrkerne aufbewahrt,
damit sie nicht kaputtgingen oder durcheinandergerieten.
Obwohl sich Dóra die
Projektunterlagen genau angeschaut hatte, war ihr nicht ganz klar,
warum diese Kerne so wichtig waren, und sie fragte Friðrikka
danach.
»Die Kerne zeigen, wie die
Erde unter uns beschaffen ist«, antwortete die Geologin
geduldig. »Das Ziel des Projekts ist, zu untersuchen, ob hier
in ausreichender Menge Molybdän vorhanden ist. Je weiter die
Erschließung von leicht zugänglichen Gebieten der Erde
voranschreitet, umso wertvoller werden Metalle und
Bodenschätze in entlegenen Gegenden wie dieser.« Sie
zeigte auf die Kisten. »Man weiß viel weniger über
das Grundgestein an der Ostküste als an der Westküste und
muss hier quasi ganz von vorne anfangen. Wir führen Bohrungen
durch, und die Zylinder zeigen uns dann genau, was hier zu finden
ist. Das wird aufgezeichnet, und wenn eine ausreichende Menge
wertvoller Bodenschätze in den Kernen gefunden wird,
könnte es sich lohnen, irgendwo hier in der Nähe ein
Bergwerk zu errichten. Wir entwerfen Karten von den Bodenschichten
und berechnen ihre Beschaffenheit zwischen den Bohrlöchern.
Anschließend kann man dann einen günstigen Standort
für das Bergwerk bestimmen.«
»Aber ist es nicht
furchtbar schwierig, durch den ganzen Schnee zu
bohren?«
»Nein, überhaupt
nicht. Der Bohrer läuft durch den Schnee wie durch
geschmolzene Butter. Außerdem schützt der Schnee den
Erdboden. Wir untersuchen ja ein sehr großes Gebiet, und wenn
der Schnee nicht so hoch wäre, würde es hier nicht mehr
so schön aussehen. Wir versuchen, möglichst wenige
Fahrwege anzulegen. Das ist nämlich eine teure Angelegenheit,
und manchmal müssen solche Pisten nach Beendigung der Arbeit
wieder entfernt werden, was auch nicht gerade billig ist.«
Sie zuckte die Achseln. »Da die Schneedecke jedes Jahr
dünner wird, sollte man solche Untersuchungen eigentlich nicht
länger aufschieben. In ein paar Jahren wird das viel
schwieriger sein, dann müssen überall Pisten angelegt
werden.«
Friðrikka schaute aus dem
winzigen Fenster der Hütte und schirmte ihre Augen mit der
Hand ab. »Sollen wir zu Loch L-3 gehen und nachsehen, ob das
Foto dort gemacht wurde?«
»Und was tun wir, wenn wir
eine Hand im Eis finden?«, gluckste Alvar.
Darauf wusste keiner eine
Antwort.
Die Einwohner von Kaanneq waren
wie üblich nicht besonders freundlich zu Igimaq. Die Frauen
warfen ihm feindselige Blicke zu, und die Männer
grüßten ihn nur mit einem kurzen Nicken. Einer rief ihm
hinterher, ob es nicht zu spät sei, wieder zu seiner Frau zu
ziehen, nachdem alle Männer etwas mit ihr gehabt hätten.
Der Jäger biss die Zähne zusammen, senkte den Blick und
tat so, als hätte er nichts gehört. Was für ein
Feigling – niemand, der auch nur einem Funken Selbstachtung
besaß, würde so etwas sagen, ohne seinem Gegenüber
in die Augen zu schauen. Entweder man traute sich, dem anderen die
Meinung ins Gesicht zu sagen, oder man schwieg und
überließ das Tratschen den Frauen. Igimaq kannte die
Stimme und wusste genau, wer der Mann war. Einer dieser
Dummköpfe, die sich vom Alkohol verleiten ließen und dem
Staat auf der Tasche lagen. Wie sein Sohn Naruana, nur dass dessen
Schicksal noch tragischer war. Dieser Mann hier hatte ohnehin kein
Talent gehabt und war ein schlechter Jäger gewesen. Er war
viel zu schmächtig. Mit einer solchen Statur brachte man es in
dieser Gegend nicht
weit.
Sein Sohn hatte hingegen alle
Voraussetzungen gehabt, die ein echter Mann brauchte. Er war
stattlich, hatte sich etwas zugetraut und nie aufgegeben. Er hatte
den Vorvätern alle Ehre gemacht. Bis das Unglück
über ihn hereinbrach und er alles verlor, was Männer im
Leben voranbringt: Stolz, Energie und Ausdauer. Anstatt auf sich
selbst zu vertrauen, wurde er zu einem Schwächling, der andere
beschimpfte. Hoffentlich war Naruana inzwischen nicht noch tiefer
gesunken. Igimaq hoffte, dass er seinem Sohn nicht begegnen
würde. Er hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren und ihm die
verbliebenen Zähne einzuschlagen. Aber diese Gefahr bestand
wohl nicht. Es war noch zu früh am Tag, als dass sein Sohn
schon auf den Beinen wäre. Seine Zeit war die Nacht, sein
Lebensstil der des Aasfressers,
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