Die eisblaue Spur
unterschiedliche Schuhe an,
vielleicht kann man die Sohlen mit der Spur abgleichen
...«
»Anscheinend war sie schon
so verweht, dass das nicht mehr möglich war. Man kann nur
sehen, dass jemand rübergegangen ist und sich am Fundament zu
schaffen gemacht hat.«
»Kann man denn nicht
sehen, ob unter dem Haus etwas gelegen hat?«
»Nein, Alvar meint, da war
nichts. Unter dem Haus ist eine dünne, unberührte
Schneeschicht. Alles sehr merkwürdig. Ich weiß nur, dass
ich es nicht war.«
Die Reifen des Jeeps waren so
groß und prall, dass sie Dóra an das Auto von Donald
Duck erinnerten. Das war ihr auf der Hinfahrt gar nicht
aufgefallen. Aber da war sie auch zu sehr damit beschäftigt
gewesen, sich festzuhalten. Die Landschaft war unbeschreiblich
schön und beängstigend zugleich. Der Rettungsmann
saß am Steuer, und außer Dóra und Matthias war
noch Friðrikka dabei. Sie hatte die Ortsbezeichnung
Südhang, L-3 sofort erkannt und sich zugetraut, sie dorthin zu
lotsen. »Es ist nicht mehr weit«, sagte sie und zeigte
Alvar einen Markierungspflock, der aus dem Schnee ragte. »Da
vorne biegst du links ab. Der Weg führt zu dem Berg da
hinten.«
»Ich hab den Punkt schon
im GPS gefunden, ich weiß, wo ich hin muss«, murmelte
der Rettungsmann. »Jemand hat ziemlich viele Informationen
gespeichert. Ist ja auch verständlich.« Er warf einen
kurzen Blick auf das GPS-Gerät. »Wir sind gleich
da.« Kurz darauf sahen sie etwas Orangefarbenes in der
schneeweißen Landschaft aufleuchten. Je näher sie kamen,
desto deutlicher konnten sie das Ding erkennen. Es sah anders aus
als sämtliche Maschinen, die Dóra je gesehen hatte:
eine große, längliche Kabine auf einem Kettenlaufwerk.
Auf dem Fahrzeug befand sich ein großer Arm mit einem
senkrechten Stahlmast, laut Friðrikka der Bohrer. Daneben stand
eine kleine, baufällige Hütte, die wahrscheinlich
stabiler war, als sie aussah, da sie dem gestrigen Sturm
standgehalten hatte. Friðrikka sagte, das sei eine mobile
Arbeitshütte für die Bohrmänner. Dóra konnte
keine Spuren von Erdbohrungen erkennen, aber Friðrikka
erklärte ihr, das sei normal, der Schnee würde sofort
wieder alles überdecken, und wenn sie etwas sehen wollten,
müssten sie Schnee schaufeln. Alvar, der die Laderampe mit
allem möglichen Werkzeug und Seilen beladen hatte, war sofort
Feuer und Flamme.
Als sie aus dem Jeep stiegen,
fuhr ihnen die Kälte in alle Glieder. Sie befanden sich vor
einer kleinen Anhöhe am Fuße einer Bergkette, die das
Gebiet einrahmte. Dóra hatte eine viel zu große
Fellmütze auf dem Kopf, die sie sich an der Garderobe im
Wohntrakt ausgeliehen hatte und die ihr immer wieder ins Gesicht
rutschte. Auch die gefütterten Handschuhe, die sie dort
gefunden hatte, passten ihr nicht richtig. Einen Moment lang
standen sie schweigend da und gewöhnten sich an die
Kälte, die bei jedem Atemzug in den Lungen schmerzte. Alle
schauten zu der Hütte und dachten dasselbe: Sind die
Männer hier gewesen? Wenn ja, konnten sie angesichts der
drückende Stille nicht mehr am Leben sein. »Wer geht
zuerst rein?«, fragte Dóra und starrte die schiefe
Tür an.
»Ich«, sagte
Matthias und setzte sich in Bewegung. Mütze und Handschuhe
passten ihm wie angegossen und sahen genauso neu aus wie sein
Rucksack. »Ist die Hütte abgeschlossen?«, fragte
er Friðrikka, die immer noch steif dastand, die Augen auf das
kleine Häuschen geheftet.
»Äh«, sie
schreckte aus ihren Gedanken hoch, »ja, aber ich weiß,
wo der Schlüssel ist.« Sie ging mit Matthias zum
Bohrwagen und öffnete an der Seite eine kleine Luke. Ein
durchdringendes Quietschen ertönte und hallte noch lange in
der menschenleeren Umgebung nach. Dann griff sie hinein und holte
einen klobigen Schlüssel heraus. »Bitte sehr.« Sie
ging zurück zu Alvar und Dóra und beobachtete aus
sicherer Entfernung, wie Matthias den Schlüssel ins Schloss
steckte. Zunächst musste er eine Klappe zur Seite schieben,
die verhinderte, dass sich feiner Schnee im Schloss festsetzte.
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich mir wünschen
soll, dass sie da drin sind ...«
Friðrikka schien eher mit
sich selbst als mit Dóra und Alvar zu sprechen. »Hast
du sie gut gekannt?«, fragte Dóra. Friðrikka
nickte nur. Die Stille wurde erst durchbrochen, als Matthias
schwungvoll die Tür öffnete. Er steckte den Kopf in die
Hütte und drehte sich dann sofort wieder um. »Hier ist
keiner!«, rief er unnötig laut.
Die anderen waren erleichtert
und gingen zu ihm. Von
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