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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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war eine bogenförmige
Felsformation zu sehen, die wie ein Heiligenschein aus dem Eis
ragte. Am Rand der Vertiefung hatte Matthias etwas glitzern sehen,
und unter großer Anstrengung hatten sie einen
merkwürdigen Gegenstand aus dem Eis befreit – einen
geschliffenen Knochen mit zwei Löchern. Die Enden des Knochens
waren mit einem Lederriemen umwickelt, so dass der Gegenstand
aussah wie ein Armband für Riesen.
    »Weiß jemand, was
das ist?« Matthias reichte den Gegenstand herum.
    »Keine Ahnung«,
sagte Friðrikka. »Irgendwas
Grönländisches.« Alvar hatte auch keine
Erklärung für den Knochen und gab ihn schulterzuckend
zurück.
    »Vielleicht können
uns die Dorfbewohner was dazu sagen.« Matthias nahm ein
schmutziges Geschirrtuch von einem Stuhl in der Hütte. Er
wickelte den Knochen hinein und steckte ihn in die Tasche. Sie
waren hungrig geworden. Dóra bezweifelte, dass im Camp
jemand so schlau gewesen war, das Mittagessen vorzubereiten. Weder
der Arzt noch der IT-Mann wirkten besonders häuslich, und
Dóra kannte Bella gut genug, um zu wissen, dass die bestimmt
nichts zu essen gemacht hatte.
    Auf dem Weg zum Auto kamen sie
wieder an dem Bohrwagen vorbei. Durch die Fenster sahen sie, dass
das Steuerhaus leer war. Friðrikka wollte dennoch einen Blick
hineinwerfen, falls die Bohrmänner irgendetwas hatten liegen
lassen. Sie erzählte, dass sich das ganze Team angewöhnt
habe, bei der Arbeit Notizen zu machen, weil man sich sonst beim
abendlichen Rapport womöglich nicht mehr an alles erinnern
konnte. Matthias folgte ihr. Sie kletterten in den Bohrwagen und
stutzten. 
    »Habt ihr was
gefunden?«, rief Dóra.
    »Ja«, rief die
Geologin zurück. »Jetzt begreife ich gar nichts
mehr!«

11.
Kapitel
    21. März 2008
    Der Therapeut war zu erfahren,
um sich von Arnars Geschichte beeindrucken zu lassen. Kein Wunder,
die Sauftour war einfach zu kurz gewesen, um viel erzählen zu
können. Der Mann war fast enttäuscht, er hatte wohl etwas
Spektakuläreres erwartet. Arnar überlegte, ob er seinem
Drang, anderen zu gefallen, nachgeben und sich einfach etwas
ausdenken sollte. Er hatte genügend Stoff aus den vergangenen
Jahren und konnte problemlos noch etwas hinzudichten. Aber er
ließ es bleiben. Die Selbstanalyse in seiner letzten Therapie
hatte ihm klargemacht, dass das Leben viel leichter war, wenn man
nicht immer versuchte, es allen recht zu machen. Sein eigenes
Wohlbefinden war genauso wichtig wie das der anderen. Das musste er
im Kopf behalten, solange sich sein erster Gedanke am Morgen darum
drehte, wie gut es wäre, sich zum Frühstück einen
Schluck zu genehmigen.
    »Du weißt doch, dass
du nach jedem Rückfall wieder am selben Punkt stehst wie beim
letzten Mal.« Der Therapeut versuchte, seinen Worten mehr
Gewicht zu verleihen, indem er Arnar intensiv in die Augen schaute.
Wie ungeschickt, dass er kurz darauf heimlich auf die Uhr sah. Eine
Sitzung so kurz vor dem Mittagessen war immer
ungünstig.
    Der Therapeut hatte leicht
vorstehende Augen, und Arnar beschlich das unangenehme Gefühl,
dass die zahllosen tragischen Geschichten, die der Mann schon
gehört hatte, sich in seinem Kopf so breitmachten, dass sie
von innen gegen die Augäpfel drückten. In ein paar Jahren
würde es seiner Zunge und seinen Ohren genauso ergehen. Arnar
überlegte, ob er ein Delirium tremens hatte. Das Bild war
vollkommen realistisch. Er versuchte, die Halluzination
abzuschütteln, und rang verzweifelt nach Worten. »Ja.
Das ist schrecklich.« Er konnte sich einfach nicht
konzentrieren.
    »Ja, das ist
schrecklich«, echote der Therapeut. »Du musst wieder
ganz von vorne anfangen und öfter zu den Meetings
kommen.« Er strich sich über die Stirn und versuchte,
ernst und verständnisvoll zu wirken, sah aber nur aus wie ein
hungriger Mann mit hervorstehenden Augen.
    »Tja, es war ziemlich
schwierig, mitten in der Eiswüste ein Meeting zu
finden.« Arnar hatte sich erkundigt, ob es in der Nähe
des Camps AA-Meetings gab, aber die nächsten waren in
Angmagssalik, und es wäre viel zu aufwändig gewesen,
dorthin zu fahren.
    »In der
Eiswüste?« Der Therapeut hatte Arnars Geschichte
anscheinend schon wieder vergessen oder nicht richtig
zugehört.
    »Ich habe in Grönland
gearbeitet. Aber da bin ich nicht rückfällig
geworden.«
    »Ach ja, stimmt.«
Das Gesicht des Mannes war völlig ausdruckslos. »Kannst
du sagen, wann du wieder zur Flasche gegriffen
hast?«
    »Ja.« Diese
Geschichte wollte Arnar dem Mann nicht erzählen. Er hatte
genug

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