Die eisblaue Spur
von dem Gespräch und sehnte sich ebenfalls nach dem
Mittagessen. Der Essengeruch drang aus dem Speisesaal zu ihnen.
»Aber darüber will ich nicht reden.« Wenn er die
Hintergründe seines Rückfalls schilderte, würde dem
Therapeuten bestimmt der Appetit vergehen. Brutale Rache, Dummheit
und Grausamkeit – und das bei einem gebildeten Mann wie ihm.
Gegen die eigenen Arbeitskollegen gerichtet. Auch wenn sie sich ihm
gegenüber abscheulich verhalten hatten, trug er die
Verantwortung für das, was passiert war. Und diesmal konnte er
es nicht auf den Alkohol schieben. Diesmal hatte nicht der Suff den
Ball ins Rollen gebracht. Er war so dumm gewesen, sich von Hass und
Rachegelüsten leiten zu lassen. Ihm war
schlecht.
Bella war die Einzige, die sich
nicht von der Expedition ihrer Mitreisenden beeindrucken
ließ. Sie rümpfte verächtlich die Nase, damit alle
merkten, wie sehr sie der Bericht langweilte. Dóra hatte
jedoch vielmehr die Vermutung, dass Bella sie sogar um den kleinen
Ausflug beneidete, denn sie war mit Eyjólfur im Camp
geblieben, um die Computer und technischen Geräte vor Ort zu
inventarisieren. Die beiden waren durch alle Zimmer gegangen, er
hatte diktiert, und sie hatte griesgrämig alles
aufgeschrieben, während der Arzt weitere Proben
nahm.
»Ihr glaubt also, dass die
Leiche der verschollenen Geologin an der Bohrstelle gelegen
hat?«, fragte Finnbogi, der Arzt, ungläubig. »Das
könnte doch auch ein Arbeitshandschuh auf dem Foto
sein.« Er legte den grobkörnigen Ausdruck des Fotos
beiseite.
Eyjólfur schnaubte.
»Bestimmt nicht. Du solltest dir das mal auf dem Bildschirm
ansehen, den Ausdruck kannst du vergessen. Bei höherer
Auflösung sieht man sogar die
Fingernägel.«
»Aber das Ganze ist doch
völlig unrealistisch. Wie hoch ist denn bitte die
Wahrscheinlichkeit, dass sie zufälligerweise ausgerechnet da,
wo die Frau gelegen hat, gebohrt haben?«
»Sehr gering.« Die
Geologin Friðrikka war immer noch ganz aufgewühlt von dem
Ausflug. »Sie haben zwar mehrere Löcher an
unterschiedlichen Stellen gebohrt, aber es wäre trotzdem
großer Zufall.«
»Könnte deine
Freundin gemerkt haben, dass sie ganz in der Nähe der
Hütte war? Vielleicht hat sie versucht, dort Schutz vor dem
Sturm zu finden.«
Friðrikka schüttelte
den Kopf. Ihr rotes Haar war ebenso schmutzig wie das der anderen.
»Nein. Als Oddný Hildur verschwand, stand die
Hütte noch woanders. Sie wird nach jeder Bohrung umgestellt.
Ich weiß nicht, wann sie dorthin gebracht wurde. Als ich hier
war, standen der Bohrwagen und die Hütte noch weiter
nördlich.«
»Vielleicht hat sie ja
versucht, dorthin zu gelangen, und einfach aufgegeben«,
meinte Matthias.
»Dann wäre sie aber
sehr weit vom Camp abgekommen«, gab Eyjólfur zu
Bedenken. »Zu Fuß ist das eine weite Strecke. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass sie bei diesem Wetter überhaupt so
weit gekommen ist.«
»Und mit dem Auto? Wenn
jemand sie mitgenommen hat?«
Friðrikka und
Eyjólfur schwiegen. Der IT-Mann fand als Erster seine
Sprache wieder. »Die Autos waren am nächsten Tag alle
noch hier. Wer hätte sie denn mitnehmen sollen? Nach dem
Abendessen hat sie keiner mehr gesehen. Warum sollte einer von uns
gelogen haben? Immerhin haben wir eine ganze Woche lang nach ihr
gesucht.«
»Fünf Tage«,
blaffte Friðrikka, »ihr habt nur fünf Tage
gesucht.« Sie schwieg einen Moment, senkte den Kopf und
starrte geistesabwesend auf die gemusterte Tischdecke.
»Vielleicht wollte derjenige, der sie mitgenommen hat, ihr
was antun. Und hat sie absichtlich ausgesetzt.«
Eyjólfur kniff die Augen
zusammen und fixierte Friðrikka wütend. Er atmete tief ein
und schien bis zehn zu zählen. Als er ausatmete, wirkte er
ruhiger. »Wenn jemand sie mitgenommen hat, dann einer von
diesen schrägen Dorfbewohnern. Vielleicht auf einem
Hundeschlitten. Von uns war’s jedenfalls
keiner.«
Als sich der nächste Streit
ankündigte, wurde Bella plötzlich hellwach.
»Vielleicht spielt es im Moment keine so große Rolle,
wie sie dorthin gekommen ist«, sagte Matthias besonnen.
»Ich finde es wichtiger, herauszufinden, was mit ihrer Leiche
passiert ist – falls da überhaupt eine Leiche im Eis
gelegen hat.« Er betrachtete die Gegenstände, die sie im
Bohrwagen gefunden hatten. Sie lagen auf dem Tisch, sonderbar
herausfordernd und irritierend.
»Haben diese
Bohrmänner oder die verschollene Frau etwa Drogen
genommen?«, fragte Bella und zeigte auf die große,
benutzte
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