Die eisblaue Spur
Glasspritze. Es steckte keine Nadel darin.
»Nein.« Diesmal
blieb Eyjólfur ganz sachlich. »Das kann nicht sein.
Hier könnte keiner arbeiten, der Drogen nimmt. Wo willst du
dir denn hier Nachschub besorgen?« Das Argument war nicht von
der Hand zu weisen. Außerdem lagen neben der Spritze Dinge,
die Drogenabhängige normalerweise nicht dabeihatten:
Schneeschuhe, eine schmutzige, verschlissene Joppe aus
unidentifizierbarem Leder, ein relativ neuer Eispickel und eine
kleine Knochenfigur, daneben das Geschirrtuch mit dem
durchlöcherten Knochen.
»Das sieht aus wie ein
Tupilak.« Friðrikka zeigte auf die Figur. Sie sah auf den
ersten Blick aus wie eine bleiche Banane, in die etwas geritzt war,
aber bei näherer Betrachtung entpuppte sie sich als kunstvoll
geschnitzter Knochen, an dem seltsame Dinge befestigt waren: Haare,
Fell und eine Vogelkralle. Die Figur sah aus wie ein Ungeheuer. Sie
hatte ein großes Gesicht mit aufgerissenem Maul und scharfen
Zähnen. In den Bauch des Monsters waren kleine Hände mit
Klauen geritzt, und an der Rückseite zeichnete sich ein
Schwanz ab.
»Was ist ein
Tupilak?« Dóra hätte die Figur gern angefasst,
aber da Matthias sie ganz vorsichtig mit Handschuhen aufgehoben und
in seinen Schal gewickelt hatte, würde sie bestimmt nicht die
Gelegenheit dazu bekommen. »Ich habe gelesen, dass die
Einheimischen einem solchen Ding die Schuld am Schicksal der ersten
Dorfbewohner geben.«
»Ich muss gestehen, dass
ich die Funktion nicht genau kenne«, antwortete
Friðrikka, »es hat was mit dem grönländischen
Volksglauben zu tun. Solche Figuren kann man auch in
Touristenläden kaufen.« Sie starrte die Figur in
Matthias’ Hand an. »Ich glaube, sie sind
unterschiedlich, aber sie haben alle solche Fratzen. So eine habe
ich allerdings noch nie gesehen. Normalerweise ist nichts an den
Figuren befestigt.«
»Das könnte also
irgendein Andenken für Touristen sein?« Matthias beugte
sich skeptisch über die verzerrte Fratze. »Wer will denn
so was haben?«
»Keine Ahnung. Ich hab die
Figur jedenfalls noch nie gesehen. Und die anderen Sachen auch
nicht.«
»Diese Spritze sieht sehr
ungewöhnlich aus.« Finnbogi betrachtete das Instrument
genauer. »Ziemlich groß. Vielleicht benutzen
Tierärzte so was. Die wurde jedenfalls nicht für Drogen
verwendet.«
»Die Jacke ist bestimmt
grönländisch«, sagte Alvar, der sich bisher
zurückgehalten hatte. »Zu dem anderen Kram kann ich
nichts sagen.«
Eyjólfur machte ein
triumphierendes Gesicht. »Dann ist meine Theorie doch gar
nicht so weit hergeholt, dass Oddný Hildur auf einem
Hundeschlitten mitgenommen wurde. Die Jacke und die Schneeschuhe
könnten dem Schlittenführer
gehören.«
»Und warum hätte er
die Sachen da liegen lassen sollen? Wegen einer Hitzewelle?«,
fragte Friðrikkas verächtlich.
Matthias ließ den
Stuhlrücken los, auf den er sich gestützt hatte, wobei
der Stuhl heftig gegen die Tischkante stieß und die
Gegenstände über den Tisch rutschten. »Das ist ein
absolutes Rätsel. Wir wissen weder, was da im Eis gelegen hat,
noch, was diese Gegenstände im Bohrwagen zu suchen
haben.« Er berührte den Eispickel. »Der muss ja
wohl benutzt worden sein, um etwas aus dem Eis zu
lösen.«
»Eins ist jedenfalls klar.
Wenn es Oddný Hildur war, dann kann sie sich nicht verlaufen
haben und draußen umgekommen sein«, sagte
Friðrikka, nun mit ihrer normalen, leicht schrillen Stimme.
»Sie ist vor einem halben Jahr verschwunden. In so kurzer
Zeit kann sie unmöglich von zwei Metern Eis und Schnee
begraben worden sein. Schnee vielleicht, aber nicht Eis. Diese
Einbuchtung war sehr tief. Man hätte eine Schaufel gebraucht,
um sie so tief einzugraben.«
»Könnte sie sich
selbst im Schnee eingegraben haben, um sich vor dem Sturm zu
schützen?«, fragte Dóra an Alvar gerichtet. Der
Rettungsmann musste so etwas ja wissen.
Der schaute sie an und
schüttelte langsam den Kopf. »Kann ich mir nicht
vorstellen. Meistens findet man irgendwo eine Schneewehe oder eine
dicke Schneewand. Hab noch nie gehört, dass sich jemand
mehrere Meter ins Eis gegraben hat.« Nach diesem Redeschwall
musterte er verlegen seine Zehen. Dóra hatte noch nie einen
so schüchternen Menschen kennengelernt.
Alle starrten auf den Tisch und
versuchten, eine logische Erklärung zu finden.
Erstaunlicherweise durchbrach Bella die Stille mit einer recht
vernünftigen Theorie. »Könnte nicht jemand diese
Geologin umgebracht und vergraben haben, und als die
Bohrmänner
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