Die eisblaue Spur
hatte, war
diese Mail gelöscht worden. Dóra musste unbedingt mit
diesem Arnar sprechen, sobald sie wieder in Island
waren.
Oddný Hildur hatte kaum
Mailkontakt mit Freunden gehabt, aber das hatte natürlich
nicht viel zu sagen. Dóra benutzte ihre berufliche
E-Mail-Adresse auch nur in Ausnahmefällen für Privates.
Dafür hatte sie einen anderen Account, und der war meistens
prall gefüllt mit irgendwelchen Spam-Mails, kuriosen Scherzen
und Lebensweisheiten, die man an mindestens zehn Personen
weiterleiten sollte, die sich bestimmt ebenso wenig für
solchen Unsinn interessierten. Gut möglich, dass Oddný
Hildur jede Menge Mails von Freunden und Bekannten bekam, ihren
Privataccount aber bei einem anderen Netzbetreiber hatte.
Oddný Hildurs Freunde konnten wohl ohnehin nichts mit ihrem
Verschwinden zu tun haben, aber vielleicht hatte sie ihnen
gegenüber die Stimmung im Camp offener beschrieben.
Plötzlich vermisste
Dóra ihre Familie. Sie war noch nie so lange ohne Kontakt zu
ihren Kindern gewesen und hätte gern gewusst, was sie machten,
ob Orri schon aufs Töpfchen ging und ob Sóley Geige
übte. Sie hoffte, dass alles friedlich ablief, vor allem der
Kontakt zwischen Gylfi und seinem Vater. Die beiden waren
garantiert aneinandergeraten. Dóras kleine Familie war
zerbrechlich, und ohne sie fehlte der Puffer, der die heftigsten
Wogen des Alltags abfederte.
»Wie
läuft’s?« Matthias betrat das Büro.
»Ich hab tierischen Hunger. Bella ist bestimmt bald mit dem
Essen fertig.«
»Bella? Bella
kocht?« Bei dieser Neuigkeit verschwand Dóras Hunger
wie im Handumdrehen. »Und was gibt es? Gegrillte
Seehundflossen und Zigarettenpudding?« Dóra schaltete
den Computer aus.
»Sie hatte nichts Besseres
zu tun.« Matthias lächelte. »Ich würde dich
ja liebend gern zum Essen einladen, aber so kurzfristig bekommt man
in den Restaurants hier in der Nähe bestimmt keinen
Tisch.« Er nahm sie in den Arm. »Es ist bestimmt bald
vorbei. Überübermorgen kommt schon der Hubschrauber. Nur
noch zwei Tage.«
Dóra erwiderte sein
Lächeln. »Wenn uns das Wetter einen Strich durch die
Rechnung macht, rede ich nie wieder mit dir.« Sie stand auf
und streckte sich, so dass ihre Wirbelsäule knackte.
»Das Schlimmste ist, dass wir nur so langsam vorankommen. Ich
habe immer noch keine Ahnung, was passiert ist, und jedes Mal, wenn
wir etwas entdecken, verkompliziert sich der
Fall.«
»Zumindest wissen wir
jetzt, wie es hier aussieht, und Friðrikka hat sich einen guten
Überblick über den Projektstand verschafft.« Er
zeigte auf ein buntes Organigramm an der Wand. »Vielleicht
bringen wir ja Licht in die Sache, wenn wir mit den Mitarbeitern in
Island reden.«
»Falls sie mit uns reden
wollen.« Dóra riss sich zusammen und verdrängte
ihren Pessimismus. »Aber das wird bestimmt aufschlussreich.
Ich habe nämlich in Oddný Hildurs E-Mails einiges
gefunden, das Friðrikkas Aussage über das Mobbing
bestätigt.«
»Was denn? War diese
Oddný Hildur das Opfer? Oder die Bohrmänner? Glaubst du
etwa, sie haben alle Selbstmord begangen?« Bevor Dóra
antworten konnte, redete er schon weiter: » Wäre das
für Bergtækni ein ausreichender Grund, um den
Projektstand zu rechtfertigen?«
»Nein, wahrscheinlich
nicht. Der Auftragnehmer trägt die Verantwortung für die
Arbeitsatmosphäre und die Mitarbeiter, seelisch wie
körperlich. Aber das meinte ich auch gar nicht. Oddný
Hildur hat sich Sorgen um einen der Ingenieure gemacht. Die
Bohrmänner hat sie in diesem Zusammenhang gar nicht
erwähnt, aber ich glaube, dass sie eher Täter als Opfer
waren.«
»Was macht dich da so
sicher?«
»Nichts Bestimmtes. Wenn
man sich ihre Computer anschaut, hat man den Eindruck, dass sie
eine Vorliebe für schlechte Scherze haben. Ich sage ja nicht,
dass sie die Anstifter waren, aber ich kann mir gut vorstellen,
dass sie kräftig mitgemischt haben, wobei ihnen vielleicht gar
nicht klar war, dass das Mobbing ist. Aber vielleicht verrenne ich
mich da auch in was. Wir sollten uns lieber auf die Geschichten der
Einheimischen über die Gegend hier
konzentrieren.«
»Wir müssen
versuchen, den Jäger zu finden«, sagte Matthias.
»Hoffentlich kriegen wir den Motorschlitten wieder in Gang.
Wenn nicht, kann uns deine Freundin vielleicht eine
Mitfahrgelegenheit auf einem Hundeschlitten
besorgen.«
»Oder wir wachen morgen
mit Flügeln auf und fliegen einfach los.« Dóra
ging zum Fenster und zog die Jalousien zu, ohne zu wissen, warum
–
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