Die eisblaue Spur
vielleicht
verschätzte er sich.
» Findest du, dass
Mörder bestraft werden sollten?« Er merkte, dass sie
immer verwirrter wurde. »Ich meine, die Tat ist ja schon
geschehen, was hat das dann noch für einen
Sinn?«
Die Frau schaute auf die Uhr und
sah nervös in den Flur. »Ich finde, Verbrecher sollten
schon für ihre Taten bestraft werden. Man kann nicht einfach
so tun, als wäre nichts geschehen. Man muss den Toten doch
rächen.«
»Rächen?«,
sagte Arnar nachdenklich, ohne die Frau anzusehen. »Und wenn
sich der Mörder schon für einen anderen Mord gerächt
hat? Das ist doch ein Teufelskreis.« Er schloss die Augen und
wünschte sich zum hundertsten Mal, gläubig zu sein. Dann
wäre es viel einfacher, die Dinge schwarzweiß zu
sehen.
»Gibt es einen bestimmten
Grund, warum du darüber nachdenkst?« Das Lächeln
war aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Nein.« Arnar konnte
ihr ein Geständnis nicht zumuten. Sie hatte, wie alle anderen
auch, bestimmt genug mit sich selbst zu tun. »Ich hab nur
drüber
nachgedacht.«
»Ich würde dir
empfehlen, einen Termin mit dem Psychologen auszumachen.« Das
Mädchen schien sich nicht sicher zu sein, ob sie darauf
bestehen sollte, dass Arnar mit zum Meeting kam, oder ob er sich in
diesem Zustand besser ausruhen sollte. »Solche Gedanken
können sehr zermürbend sein. Wenn du mit jemandem
darüber gesprochen hast, geht es dir bestimmt besser. Aber ich
bin nicht die richtige Person dafür.«
Arnar nickte. »Nein,
natürlich nicht.« Er wollte weder mit ihr noch mit
jemand anderem darüber reden. Er war nicht so blöd, zu
glauben, dass das etwas ändern würde. Manches konnte man
einfach nicht ändern. Tote erwachten nicht wieder zum Leben.
»Mach dir keine Sorgen. Ich muss mit niemandem reden, ich bin
nur gerade ein bisschen durcheinander.« Er stand auf.
»Ich gehe dann mal besser zum Meeting.« Arnars
Hände zitterten noch stärker als vorher. »Kannst du
mal fragen, ob ich was dagegen kriegen kann?« Er streckte die
Arme aus, und sie betrachteten beide seine zitternden Finger, so
als sei das ein Spiel. Aber so war es nicht. Seine Hände
zitterten ganz von alleine. Vielleicht, weil es in seinem Inneren
so kalt war. Tabletten würden nichts daran ändern; er
bereute es schon, danach gefragt zu haben, und hoffte, die Frau
würde es einfach vergessen. Er wollte keinen Arzt treffen, er
wollte niemanden treffen. Er wollte nur allein sein, wollte das
Elend so tief in seinem Körper verschließen, dass es bis
in sein Knochenmark drang. Er hatte es nicht verdient, sich besser
zu fühlen; wenn er jetzt genug litt, konnte er sich vielleicht
mit der Zeit von den Schuldgefühlen befreien und ein neues
Leben beginnen. Der Jäger hatte nichts dagegen, zu warten.
Sein Freund Sikki sollte ruhig wissen, dass er so schnell nicht
aufgeben würde. Das war sein Plan. Nichts lag dem Jäger
näher, als reglos dazusitzen und die Zeit vergehen zu lassen.
Draußen auf dem Eis wartete er tagelang geduldig auf seine
Beute. Sein Vater hatte ihm beigebracht, wie das ging, den Kopf
frei zu kriegen, die Gedanken wie bei einem Tagtraum schweifen zu
lassen. Diesen Zustand konnte er hervorrufen, ohne die Augen zu
schließen, und was noch wichtiger war – ohne seine
Umgebung aus dem Blick zu lassen. Nachdem Sikkis Ehefrau ihm mit
den Worten, ihr Mann sei nicht zu Hause und werde so bald nicht
zurückkommen, die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte,
hatte er sich auf die Treppe vors Haus gesetzt und angefangen zu
warten. Es war sein dritter Versuch, Sikki zu treffen, aber diesmal
hatte er darauf geachtet, unbeobachtet zum Haus zu gelangen. Und er
war etwas später gekommen, zu einem Zeitpunkt, an dem Sikki
höchstwahrscheinlich zu Hause war.
Sikkis Frau sah ab und zu nach,
ob er noch da war, aber abgesehen davon wurde der Jäger nicht
gestört. Ein junges Mädchen ging vorbei und schaute ihn
verstohlen an. Dann beschleunigte sie ihren Schritt und verschwand
in der nächsten Straße. Im Dorf gab es sonst niemanden,
der sich noch so kleidete wie er. Deshalb war ihr sofort klar, wer
dort auf der Treppe saß. Ihr Gang erinnerte Igimaq an seine
Tochter Usinna, als sie in diesem Alter gewesen war. Er hatte sie
immer dafür bewundert, dass jeder ihrer Schritte einen Sinn zu
haben schien, sie näher zu den aufregenden Abenteuern brachte,
von denen sie überzeugt war, dass sie hinter der nächsten
Ecke auf sie warteten. Er war nicht überrascht, als sie ein
paar Jahre später zum Studium nach
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