Die eisblaue Spur
will jetzt mein
Geld.«
»Sie müssen es mir
sagen. Ist das Gelände schlecht, weil dort etwas passiert ist?
Oder gibt es dort irgendwelche Gefahren? Eisbären
vielleicht?«
Die Frau wurde langsam unruhig.
Sie kniff die Augen zusammen, trat von einem Fuß auf den
anderen und sah sich um, so als wolle sie sich vergewissern, dass
es keine Zeugen gab. Obwohl kein Mensch zu sehen war, standen in
den umliegenden Häusern bestimmt Leute hinter den Gardinen.
»Keine Ahnung. Das wissen einfach alle. Das Gelände ist
schlecht, und es ist gefährlich, dort herumzulaufen. Wir gehen
nie dorthin. Wenn die Leute auf uns gehört hätten,
würden Sie jetzt nicht nach diesem Mann suchen.« Sie
hörte auf, nach unsichtbaren Zuhörern Ausschau zu halten,
und sah Dóra in die Augen. Die tiefschwarzen Pupillen im
gelblichen Weiß ihrer Augen schimmerten. »Sie werden
ihn nie finden.«
Bevor Dóra etwas sagen
konnte, kamen Matthias und Finnbogi zurück zum Auto. Die Frau
erschrak und war auf einmal sehr nervös. »Das sind meine
Freunde«, sagte Dóra, um sie zu beruhigen. Sie empfand
eine gewisse Sympathie für den Selbstrettungsversuch der Frau,
gegen Bezahlung mit den Fremden zu reden – im Dorf gab es
bestimmt nicht viele Verdienstmöglichkeiten. Die Boote
schienen nur zum Fischfang für den Eigenbedarf bestimmt zu
sein, und größere Schiffe gelangten wegen des Packeises
nicht in den Hafen. Eigentlich hätten sich die Dorfbewohner
über die Bautätigkeiten freuen sollen, denn sie brachten
Arbeitsplätze. Aber die tiefsitzende Furcht, dass der Ort
entweiht wurde, hinderte sie daran. Dóra zeigte auf
Matthias, der zusammen mit Finnbogi langsam auf den Wagen zukam.
»Er hat Geld dabei.« Die Frau nickte ängstlich.
Während Dóra den Männern erklärte, was los
war, schien die Grönländerin damit zu rechnen, jeden
Moment von den dreien überfallen zu werden.
Dóra wusste nicht, wie
viel sie der Frau geben sollten. Finnbogi beharrte darauf, dass
ihnen bald alle möglichen Leute Geschichten auftischen
würden, wenn sie der Frau zu viel bezahlten. Am Ende gaben sie
ihr fünfhundert dänische Kronen, die sie wortlos
entgegennahm und in ihre Tasche stopfte. »Wo wohnen
Sie?«, fragte Dóra.
»Warum?«, entgegnete
die Frau argwöhnisch und verzog das Gesicht.
»Vielleicht muss ich noch
mal mit Ihnen reden. Wenn wir das Telefon im Camp nicht in Gang
kriegen, müsste ich vielleicht bei Ihnen telefonieren.
Natürlich gegen Bezahlung. Außerdem würde ich gern
mehr über das Gelände wissen. Vielleicht können Sie
versuchen, ältere Leute danach zu fragen, warum das Gebiet ...
einen so schlechten Ruf hat.«
Die Frau schüttelte den
Kopf. »Mit denen rede ich nicht. Das müssen Sie schon
selbst tun.« Sie wirkte etwas unentschlossen, hoffte
womöglich auf mehr Geld. Dann wandte sie ihren Blick von
Dóra ab und sah wieder zu den Fenstern der umliegenden
Häuser.
»Aber niemand will mit uns
reden, das wissen Sie doch. Sie sind die Einzige, die
überhaupt dazu bereit war. Ich verspreche Ihnen, Sie für
alles zu bezahlen.«
Die Frau schaute sich ein
letztes Mal um, wandte sich schließlich wieder zu Dóra
und zeigte unauffällig Richtung Hafen. »Sehen Sie das
Haus am Ende des Dorfes? Das blaue.« Es war das Haus, das
Dóra auf dem Weg vom Hafen aufgefallen war. Aus dieser
Perspektive sah es auch nicht einladender aus. Bis auf die
grellorangenen Skier, die an der Giebelwand im Schnee steckten,
ließ nichts auf sportliche Betätigung oder eine gesunde
Lebensführung schließen. Dóra vermutete, dass die
Frau eben hinter der Gardine gestanden hatte. »Da wohne
ich.« Sie warf einen schnellen Blick auf die Männer.
»Sie können bei mir telefonieren. Aber die nicht. Nur
Sie.« Dann wandte sie sich ohne Abschiedsgruß
ab.
»Was ist mit den
Auskünften?«, rief Dóra. »Würden Sie
versuchen, etwas über die Geschichte des Geländes
herauszufinden?«
Die Frau blieb stehen, drehte
sich aber nicht um. »Nein. Sie können versuchen, mit
Igimaq zu reden. Er kennt die Geschichte.«
»Wer ist das?«, kam
der Arzt Dóra zuvor.
Die Frau drehte sich wütend
um und schaute Dóra in die Augen, so als seien die beiden
Männer gar nicht da. Finnbogi war so schlau, sich daraufhin
zurückzuhalten. »Ein alter Jäger, der das Gebiet
gut kennt. Er hat am eigenen Leib erfahren, was passiert, wenn man
sich da herumtreibt. Er hat dort seine Tochter
verloren.«
»Was meinen Sie? Hat sie
sich verirrt?«
»Fragen Sie Igimaq. Er
wohnt westlich vom Dorf. Wenn Sie
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