Die eisblaue Spur
in
Oddný Hildurs Büro bequem gemacht. Sie wollte die
Fotos, die Eyjólfur von den beschädigten Schüsseln
gemacht hatte, auf den Computer laden. Später würde sie
sie dann auf ihren Laptop ziehen, aber es war angenehmer, sie auf
einem vernünftigen Bildschirm anzuschauen, der nicht mit
Fingerabdrücken von Kindern übersät war. Inzwischen
wies alles darauf hin, dass das Verschwinden der Bohrmänner
menschliche Ursachen hatte. Aber wer war dafür verantwortlich?
Natürlich war es nicht ausgeschlossen, dass die Schüsseln
bei einem heftigen Sturm abgerissen waren, für Eisbären
oder andere wilde Tiere war das Dach aber definitiv zu hoch. Die
Schüsseln sahen auch nicht so aus, als seien Tiere am Werk
gewesen; das dicke Metall war eingedellt, aber nicht zerkratzt. Die
Dellen konnten nur von einem Werkzeug verursacht worden sein. Nach
dem Gespräch mit der Grönländerin fand Dóra
es gar nicht mehr so abwegig, dass ein Einheimischer seine Finger
im Spiel gehabt hatte. Unterlassene Hilfeleistung und
vorsätzliche Sachbeschädigung lagen nah beieinander.
Vielleicht hatten die Grönländer so heftig reagiert, weil
ihre Warnungen nicht ernst genommen worden waren. Aber ob sie auch
etwas mit dem Verschwinden der Geologin zu tun hatten? Dóra
musste unbedingt mehr über die Frau herausfinden. Nachdem sie
die Fotos kopiert hatte, durchforstete sie Oddný Hildurs
Computer.
Nach einiger Zeit machte sich
Dóras leerer Magen bemerkbar, und sie warf einen Blick auf
die Uhr auf dem Bildschirm. Die Zeit war nur so verflogen. Und
Dóra war nicht viel schlauer als vorher. Oddný Hildur
schien ziemlich zurückhaltend gewesen zu sein, hatte nicht
viel Persönliches auf ihrem Computer. Ihre E-Mails waren
völlig uninteressant und drehten sich in erster Linie um die
Arbeit – jede Menge kurze Mitteilungen mit angehängten
Berichten über den Verlauf des Projekts und irgendwelche
Erdschichten. Lediglich ein paar Mails an den Chef weckten
Dóras Aufmerksamkeit. Darin beschwerte sich Oddný
Hildur über die Arbeitsatmosphäre und
Mobbingvorfälle, deren Opfer angeblich der Ingenieur Arnar
gewesen war. Dóra fand eine Antwort des Chefs, in der er
Oddný Hildurs Befürchtungen mit ziemlich banalen
Floskeln abblockte: »das sind doch nur gutmütige
Späße, die man nicht ernst nehmen muss« und
»das ist ihm bestimmt völlig egal, der hat ein dickes
Fell«. Dóra bewunderte die Hartnäckigkeit der
Geologin, die nicht aufgab und die Sache weiterverfolgte. Die
letzte Beschwerdemail schrieb sie zwei Tage vor ihrem Verschwinden.
Sie wurde nicht beantwortet. Oddný Hildur schrieb, man
könne nicht länger so tun, als sei nichts geschehen, der
Mann fühle sich miserabel, und die Schikanen seiner Kollegen
seien ihm bestimmt nicht »völlig egal«. Das
Mobbing nehme immer schlimmere Ausmaße an und steuere auf
eine Katastrophe zu. Dóra rief sich den Wortwechsel zwischen
Friðrikka und Eyjólfur über den schwulen Ingenieur
ins Gedächtnis. Sah ganz so aus, als hätte der arme Mann
unter den Vorurteilen seiner Kollegen leiden müssen. Aber
Eyjólfur hatte auch erwähnt, er sei wegen seiner
Alkoholkrankheit oder vielmehr wegen seiner Abstinenz unbeliebt
gewesen. Aus den Mails ging jedoch nicht hervor, was genau die
Ursache für das Mobbing gewesen war.
Dóra stieß auf ein
paar Mails zwischen Oddný Hildur und Arnar, aber darin stand
auch nicht, warum er gemobbt worden war und wie er sich
gefühlt hatte. Dóra vermutete, dass er sich keine
Blöße geben und sich nicht beklagen wollte, obwohl ihm
das Verhalten seiner Kollegen zusetzte. So musste es gewesen sein.
Wenn man Oddný Hildurs Worten Glauben schenken durfte,
wäre es schon schlimm genug gewesen, so etwas an fünf
Tagen in der Woche für acht bis zehn Stunden ertragen zu
müssen, aber in diesem Fall gingen Arbeit und Privatleben
ineinander über, und es gab keine
Rückzugsmöglichkeit. Deshalb klangen Sätze wie
»das macht mir nichts, ich lasse mich von denen nicht
unterkriegen« und »mir war schon immer egal, was andere
von mir denken« nicht sehr überzeugend. Arnar schien
sich eher selbst einreden zu wollen, dass das Ganze nicht so
schlimm war. Nur eine Mail wies auf das Gegenteil hin. Darin lud er
Oddný Hildur auf einen Kaffee in seine Wohnung ein, er wolle
etwas mit ihr besprechen, er denke darüber nach, zu
kündigen, weil »das so nicht mehr weitergeht«. Das
war seine letzte E-Mail an die Geologin – zwei Tage vor ihrem
Verschwinden. Falls sie ihm darauf noch geantwortet
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