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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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das Allernotwendigste
ausführte. Wütend starrte er auf seine Finger, die
stärker zitterten, als sie es in der grönländischen
Kälte je getan hatten, und ihm den inneren Frieden
verweigerten, nach dem er sich sehnte. Er überlegte, ob er den
Arzt nach Tabletten gegen das Zittern fragen sollte, verwarf diesen
Gedanken aber wieder. Da musste er jetzt einfach durch –
ungeschützt und ohne Hilfe der Arzneimittelindustrie durchs
reinigende Feuer.
    Es war alles so ungerecht. Die
Stadt war voll mit Leuten, die trinken konnten, ohne vor die Hunde
zu gehen wie er, wenn er sich nur einen winzigen Schluck
genehmigte. Wo er es doch schon schwer genug hatte. Arnar richtete
seinen Blick von den zitternden Händen auf die Wand. Er musste
mit diesem Jammern aufhören. Er hatte schon genug Therapien
gemacht, um zu wissen, dass er aufhören musste, sich selbst zu
bemitleiden, und anfangen musste, Verantwortung für sein Leben
zu übernehmen. Jedes Mal führte er das Glas an die
Lippen, mit der Gewissheit, dass er sein Selbstwertgefühl und
kurze Zeit später das Bewusstsein verlieren würde. Das
durfte er nie vergessen. Er allein konnte das Problem in Schach
halten, die Sucht in einen imaginären Käfig sperren, wo
sie zwar noch fauchte und knurrte, aber unfähig war,
zuzubeißen. Er hatte längst begriffen, dass er mit der
Sucht leben musste, dass es kein Wundermittel gegen sie gab. Aber
das Schwierige war, sich damit zu arrangieren, nicht an den
Augenblick zu denken, wenn der erste Schluck durch die Kehle rann,
mit der Verheißung, dass alles gut werden und ein
Gläschen nicht schaden würde. Sobald er betrunken war,
verschwand das wohlige Gefühl wieder, auch wenn es ihm nicht
wirklich schlecht ging. Er spürte einfach gar nichts mehr;
alles drehte sich nur um den nächsten Drink. Die ersten
Schlucke waren die gefährlichsten, so gefährlich gut,
dass er sich immer wieder verlocken ließ und jedes Mal davon
überzeugt war, nach zwei oder höchstens drei Gläsern
die Flasche zumachen zu können. Was für ein Selbstbetrug.
Arnar starrte die weiß gestrichene Wand an und zwang sich,
sich auf die Oberflächenstruktur zu konzentrieren. Vielleicht
sollte er sich dauerhaft einweisen lassen. Dann könnte er auf
der Bettkante sitzen und die Wand anstarren, während die Jahre
und das Leben an ihm vorbeizogen. Die Welt würde sich auch
ohne ihn weiterdrehen. 
    In dem Moment klopfte es dezent
an der Tür, und Arnar musste seinen Blick von der Wand
lösen. Er stand nicht auf, bat den Gast nicht hinein. Nach
einer Weile ging die Tür auf, und eine Frau, die er gestern im
Flur gesehen hatte, spähte ins Zimmer. Eine Mitarbeiterin.
Auch ohne ihre spezielle Kluft hätte man sie leicht von den
Patienten unterscheiden können. Ihr Gesichtsausdruck war viel
zu ausgeglichen für eine Therapiepatientin. Arnar schaute sie
an und wartete darauf, dass sie etwas sagte.
    » Wie geht's?«,
fragte sie lächelnd. Arnar dachte darüber nach, wie oft
sie diese Frage schon mit genau demselben Lächeln gestellt
hatte. Er antwortete nicht. »Wir hatten gehofft, du
würdest zum Meeting erscheinen. Aber du warst nicht da. Es
würde dir guttun, unter Leute zu kommen. Du musst selbst aktiv
werden, wenn die Therapie etwas bringen soll.«
    Arnar drehte sich wieder zur
Wand. »Wie findest du es, Tiere zu töten?«, fragte
er.
    » Ich? Nicht besonders
toll, aber es ist schon okay, wenn man sie isst.«
    »Und Menschen?«,
fragte Arnar mit demselben Gesichtsausdruck und im selben Tonfall.
»Ist das auch okay?«
    »Nein. Würde ich
nicht sagen.«
    Arnar drehte den Kopf und sah
sie an. Sie war hübsch, aber die albernen, blonden
Strähnen in ihrem langen Haar, die Sonnenbankbräune und
die billigen, viel zu großen Ohrringe waren nicht gerade
vorteilhaft. Sie erinnerte ihn an die Massen von Mädchen, die
am Wochenende durch die Innenstadt zogen, in kleinen Grüppchen
umherspazierten und versuchten aufzufallen. Wahrscheinlich
beurteilte er sie zu hart, vielleicht trank sie keinen Alkohol und
war nur so braun und hatte so helles Haar, weil sie viel an der
frischen Luft war. Er merkte, dass es ihr unangenehm war, so
angestarrt zu werden. »Ich finde es manchmal
okay.«
    »Verstehe.« Die
junge Frau schien sich unwohl zu fühlen. Sie wollte ihn
überreden, zum Meeting zu gehen, und nicht mit ihm über
moralische Fragen diskutieren. Arnar wusste nicht, welche Funktion
sie hatte – Krankenschwester, Psychologin oder Therapeutin.
Sie wirkte zu jung, um Ärztin zu sein, aber

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