Die eisblaue Spur
Dänemark gehen wollte.
Er hatte sich nicht dagegengestellt, es wäre ohnehin zwecklos
gewesen. Usinna wäre auf jeden Fall gegangen. Dennoch bereute
er, es nicht wenigstens versucht zu haben, nicht von ihr verlangt
zu haben, eine Familie zu gründen, sich einen Mann zu suchen
und den Kreislauf des Lebens aufrechtzuerhalten. Vielleicht
wäre dann alles anders gekommen.
Igimaq hörte hinter sich
ein Knarren und schaute auf. Sikki stand in der Tür und
starrte ihn missmutig an. »Du hast dich kaum verändert,
Igimaq. Ich meine nicht äußerlich, du bist genauso alt
geworden wie ich.«
Der Jäger stand auf und sah
seinem Jugendfreund in die Augen. »Ich muss mit dir reden. In
Ruhe.« Er vermutete, dass Sikki ihn immer noch nicht
hereinlassen wollte, und obwohl er eigentlich nichts dagegen hatte,
weiter draußen zu sitzen, sollte man ein so empfindliches
Thema nicht unter freiem Himmel besprechen.
Sikki machte ein abweisendes
Gesicht, bat den Jäger aber hinein. Er führte ihn in ein
kleines, schäbiges Wohnzimmer, in dem eine Stehlampe brannte.
»Ich muss die Glühbirne in der Deckenlampe
auswechseln«, murmelte Sikki und setzte sich. Er hatte etwas
Würdevolles an sich, aber auf andere Weise als sein Vater. Der
hatte sich nie die Blöße gegeben, dem Blick seines
Gegenübers auszuweichen. Sikkis Vater hätte dem Blick des
Jägers mit Leichtigkeit standgehalten. »Ich bin
müde, Igimaq. Was ist denn so dringend?«
»Es sind wieder Leute im
Camp.« Der Jäger fühlte sich auf seinem Stuhl
unwohl. Sikki hatte ihm nicht angeboten, seine dicke Winterkleidung
abzulegen, und ihm war viel zu warm.
»Ich weiß.«
Sikki setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und stellte die Heizung
höher.
»Weißt du nicht
mehr, was man uns beigebracht hat, Sikki?« Der Jäger
fixierte seinen Freund. »Wir tragen die Verantwortung
für das Gebiet.« Er hatte es noch vor Augen, als sei es
gestern gewesen, als man ihnen die Verantwortung übertragen
hatte – ihm, weil er ein Nachkomme des besten Jägers im
Dorf war, und Sikki, weil er der zukünftige Angekkok oder
Schamane sein würde, wie sein Vater und Großvater vor
ihm. Angeblich konnte er Kranke heilen und mit Verstorbenen
sprechen, obwohl Igimaq diese Fähigkeit noch nie bei seinem
Freund bemerkt hatte. Damals waren sie gerade sechzehn geworden.
Sie würden den Weg beschreiten, den ihre Vorväter
für sie bestimmt hatten, auch wenn Sikki womöglich nicht
dasselbe Talent in die Wiege gelegt worden war wie seinem
Vater.
Sikki kniff die Augen zusammen
und versuchte, seine Männlichkeit durch ein kräftiges
Schnauben zu unterstreichen. »Die Welt hat sich
verändert, Igimaq. Was uns beigebracht worden ist, hat keine
Gültigkeit mehr. Selbst, wenn du versuchst, die alten
Bräuche weiterzuführen, werden sie aussterben. Ich habe
keinen Sohn, und dein Sohn tritt, so wie es aussieht, auch nicht in
deine Fußstapfen.«
»Das tut nichts zur Sache,
Sikki.« Der Jäger spürte, wie ihm ein
Schweißtropfen den Rücken hinunterrann. »Das
weißt du sehr gut. Es geht nicht um die alten
Zeiten.«
»Natürlich weiß
ich das«, murmelte Sikki, »aber was soll ich deiner
Meinung nach tun? Die Leute verjagen?« Er schnaubte.
»Dieses Bergwerk ist das Beste, was uns seit Jahren passiert
ist. Endlich bekommen die jungen Leute Arbeit. Du kannst dir gar
nicht vorstellen, wie sehr sie sich eine angesehene Arbeit
wünschen. Keiner will von Almosen leben, die er zum
Monatswechsel fürs Nichtstun vom Amt bekommt. Die jungen Leute
brauchen Arbeit, und du weißt genauso gut wie ich, dass sie
nicht so arbeiten können wie wir früher. Diese Zeiten
sind vorbei. Keiner will uns mehr etwas abkaufen. Heutzutage kann
man froh sein, wenn man dreihundert dänische Kronen für
ein Seehundfell bekommt, falls es überhaupt jemand kaufen
will. Und du weißt am allerbesten, wie viel Arbeit das
Ausnehmen bedeutet.«
Der Jäger zuckte die
Achseln, wobei weitere Schweißtropfen an seiner
Wirbelsäule hinabperlten. Sämtlicher Handel, der das Dorf
früher am Leben gehalten hatte, war verboten worden. Eher
konnte man Schnee verkaufen als Seehundfelle und Walfleisch.
»Du hast bei deinen Vorvätern geschworen, dafür zu
sorgen, dass das Gelände nicht bebaut oder zerstört wird.
Sollen sie das Bergwerk doch woanders bauen!«
Sikki sah seinen Freund an,
jetzt ohne wichtigtuerisches Gehabe. Sein Gesicht wirkte traurig,
so als habe er unendliches Mitleid mit ihm. »Das geht nicht.
Entweder das Bergwerk wird hier oder ganz woanders
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