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Die eisblaue Spur

Die eisblaue Spur

Titel: Die eisblaue Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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noch nicht so tief
gesunken waren. Die waren immerhin noch in der Überzahl. Die
Übrigen, denen es genauso ging wie ihnen, verließen nur
selten das Haus, schliefen ihren Rausch aus, nur um irgendwann
aufzustehen und den Teufelskreis wieder aufzunehmen. »Ich hab
der Frau von Usinna erzählt.« Oqqapia wusste nicht,
warum sie das sagte. Naruana reagierte schon empfindlich auf die
Erwähnung seines Vaters, aber mit seiner Schwester war es noch
schlimmer. Er sprach nur von ihr, wenn er schon so betrunken war,
dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Da Oqqapia zu diesem
Zeitpunkt meistens in einem ähnlichen Zustand war, behielt sie
sein Gerede kaum im Gedächtnis. Sie konnte sich nur
bruchstückhaft an ein paar Einzelheiten erinnern, die so
merkwürdig waren, dass sie dachte, ihn missverstanden oder
sich verhört zu haben. Irgendein Gefasel von Zeichen und
Vorvätern, die er nicht enttäuschen dürfe, und eine
entsetzliche Geschichte über Usinnas Schicksal, die kaum wahr
sein konnte. Jedes Mal, wenn Naruana abends von seiner Schwester
schwafelte, sprach er am nächsten Morgen übers
Kinderkriegen. Das war sonst nie ein Thema. Sie waren nicht
offiziell zusammen und beide nicht in der Lage, Kinder aufzuziehen.
Erst hatte sie sich darüber gefreut, dass er das Thema
ansprach, aber dann kamen ihr Zweifel. Sie stellte ihn zur Rede und
fand heraus, dass sein Kinderwunsch nichts mit ihr zu tun hatte. Er
wollte nur einen Nachkommen, und sie war die Einzige, die in Frage
kam. Die Fortführung der Familie war wichtig für die
Seele seiner Schwester, und er war der Einzige, der dafür
sorgen konnte. Oqqapia hatte im Lauf der Zeit viel erdulden
müssen, aber dies war am schmerzhaftesten gewesen. Die brutale
Bestätigung, dass sie ihm im Grunde egal war. Seine Schwester
war ihm wichtiger, obwohl sie längst tot war.
    »Was hast du der Frau von
ihr erzählt?« Naruana stand immer noch vor dem
Kühlschrank und drehte ihr den Rücken zu. Die langen,
schmalen Muskelstränge in seinen hageren Schultern zogen sich
zusammen, und sein Atem wurde ruhiger.
    »Nichts. Nur, dass sie
beim Camp gestorben ist. Sonst nichts.« Usinna war ein paar
Jahre älter gewesen als sie, aber Oqqapia konnte sich trotzdem
gut an sie erinnern. Man musste sich einfach an sie erinnern. Ihre
Schönheit und Unerschrockenheit entgingen niemandem. Als
Oqqapia ein Teenager war, ging Usinna zum Studieren ins Ausland und
kehrte ein paar Jahre später wieder zurück, noch
attraktiver als vorher. Die Eleganz, die sie vorher schon
ausgestrahlt hatte, war von einer gewissen Weltgewandtheit
ergänzt worden. Kein Wunder, dass Naruana ihre Wiedergeburt
sicherstellen wollte.
    »Wag es nicht, ihren Namen
in den Mund zu nehmen, du verdammte Hure!« Er drehte sich um
und schlug mit voller Wucht gegen die Kühlschranktür, so
dass sich eine große Delle auf der glatten Oberfläche
bildete.
    Oqqapia schwieg. Sie war nicht
umsonst bei einer gewalttätigen, trunksüchtigen Mutter
aufgewachsen. In solchen Momenten hielt man lieber den Mund. Aber
er hatte es gewagt, sie Hure zu nennen. Das war immer noch ihr
Haus. Er nannte sie Hure, obwohl sie ihm Unterschlupf gewährte
und er Bier von ihr bekam, das sie sich durch ein paar
Auskünfte verdient hatte.
    Oqqapia war nicht so tief
gesunken wie er, sie war in die unterste Gesellschaftsschicht
hineingeboren worden und dort geblieben. Als kleines Mädchen
wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass Naruana, der Sohn des
mächtigen Igimaq, einmal mit ihr unter einem Dach wohnen
würde, mit der Tochter der Dorfhure und des Penners, der eines
kalten Winters im Suff erfroren war. Sie hatte keine Erinnerung an
ihren Vater, aber ihre Mutter und andere Leute, die gern über
ihre Herkunft lästerten, erinnerten sie ständig daran,
wie erbärmlich er gewesen war. Das Einzige, wofür Oqqapia
ihrem Vater dankbar war, war, dass er das Haus gebaut hatte. Wie
bei den meisten Häusern im Dorf, hatte er das Material von den
Dänen geschenkt bekommen. Sie hatten allen Bauwilligen
Material zur Verfügung gestellt, und wer ein paar Jahre in dem
Haus gewohnt hatte, der bekam es geschenkt. Auf diese Weise hatte
Oqqapia, außer einem schlechten Ruf, wenigstens etwas von
ihren Eltern geerbt. Die Einzigen, die ihr je Zuneigung
entgegengebracht hatten, waren die Lehrer, die in ihrer Kindheit in
unregelmäßigen Abständen ins Dorf gekommen waren.
Oqqapia dachte gern an sie zurück. Diese Leute hatten sie nie
Hure genannt oder beschimpft, sondern ihr gesagt,

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