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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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Auf diese Weise kletterte er langsam und vorsichtig, ein paarmal mit den Stiefeln abrutschend, die schräge Mauer des Sockels hoch. Das Seil hing hinter ihm herab.
    »Gut gemacht, Simon!«, rief Emily. Sie rief es mit einem lauten Flüstern, ängstlich auf jeden Laut achtend. Immer wieder ging sie die paar Schritte bis zum Turm und spähte vorsichtig um die Ecke. Alles war ruhig.
    »Wenn er um die andere Ecke kommt, sind wir dran«, sagte sie zu Marcus, der am Fuß der steilen Rampe stand und das Seil langsam abgab. »Dann sieht er uns schon von Weitem.«
    »Wird er nicht«, sagte Marcus. »Er wird nicht auftauchen, mein ich. Und wenn er’s doch tut, renn ich einfach weg. Wo ihr beide wohnt, weiß er; aber er hat keinen blassen Dunst, wer ich bin.«
    »Na, prima. Das ist ein echter Trost für mich. Aber hey, schau mal – er hat’s geschafft!«
    Tatsächlich hatte Simon die steile Stützrampe inzwischen fast ganz erklommen. Seine vorderen Stiefelkanten in eine leichte Vertiefung an der vereisten Mauer geklemmt, den Körper an die schräge Fläche gepresst, suchte er mit den Fingern nach einem Halt in den ersten senkrechten Steinquadern. Zwei Blöcke waren an den Ecken stark verwittert. Simon griff dorthin und zog sich mit einem Ruck höher. Noch ein paar hastige Korrekturen, blitzschnelle Bewegungen der Arme und Beine, dann stand er aufrecht, die Finger in die Mauer gekrallt, die Füße auf dem Ende der Rampe abgesetzt.
    »Respekt!«, flüsterte Marcus. »Er ist fast oben!«
    Für Simon schien der schlimmste Teil vorüber zu sein. Er kam jetzt an dem senkrechten, griffigen Mauerwerk viel schneller voran. Sie beobachteten, wie er immer höher kletterte – und sich der Öffnung immer mehr näherte.
    Marcus ließ das Seil durch seine Finger gleiten. »Kann er ziemlich gut, was?«, sagte er in beiläufigem Tonfall. »Hast du nicht erzählt, dass sein Bruder im Gefängnis sitzt? Vielleicht wegen Einbruchsdiebstahl?«
    Emily warf ihm einen wütenden Blick zu. »Halt die Klappe, Marcus. Das war alles deine Idee – deshalb tut er das hier.«
    »Schon gut, ich hab ja nur sagen wollen, dass er so was wie ein Naturtalent ist.«
    »Was ist eigentlich heute mit dir los? Halt einfach die Klappe!« Emily drehte sich halb um die eigene Achse und ließ die Augen suchend über den Horizont wandern. Dann ging sie wieder die paar Schritte zum Turm und spähte um die Ecke. Niemand war zu sehen. Ein gedämpfter Jubelruf erklang hinter ihr. Marcus winkte mit den Armen und deutete nach oben.
    »Er hat’s geschafft!«, sagte er mit heiserem Flüstern. »Er ist drin!« Emily blickte gerade noch rechtzeitig hoch, um Simons Stiefel durch die Maueröffnung hinein in die Burg verschwinden zu sehen. Sie rannte zurück zu Marcus und beide schauten gespannt auf das Loch. Nichts geschah. Das Seil lag ruhig in Marcus’ Hand. An der Stelle, wo es auf der Maueröffnung auflag, ruckte es ein- oder zweimal hin und her, aber sonst regte sich nichts. Emily und Marcus standen nebeneinander, die Blicke starr nach oben gerichtet. Es gab eine Pause.
    Fürchterliche Bilder schossen Emily durch den Kopf. Sie warf Marcus einen ängstlichen Blick zu. »Was ist da los?«, flüsterte sie. »Glaubst du, dass Harris...?«
    Marcus runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf. »Glaub ich nicht. Dann hätten wir was gehört. Alles ist okay. Er kann auch nicht abgestürzt sein, sonst wär das Seil durchgesaust.« Aber er blickte nicht sehr überzeugt drein.
    Plötzlich zuckte das Seil in seiner Hand, was beide hochschrecken ließ. Simons Kopf tauchte in der Maueröffnung auf. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er reckte den Daumen hoch.
    »War’n Spaziergang, Kinder!«, rief er. »Großartig hier! Das müsst ihr sehen! Wartet eine Sekunde, bis ich das Seil festgebunden habe.«
    Das Gesicht verschwand.
    »Ein echter Held!«, sagte Emily.
    Marcus zuckte mit den Achseln und murmelte etwas, was Emily nicht verstand.
    Nach ein paar Augenblicken tauchte Simons Gesicht über ihnen wieder auf. »Okay«, sagte er. »Das Seil ist an dem Geländer festgeknotet. Einer von euch kann kommen.«
    Marcus blickte Emily an. »Also«, sagte er, »wer folgt dem Helden jetzt nach?«
    »Mach du mal ruhig«, antwortete Emily hastig. »War schließlich deine Idee.«
    »Ja. Na, okay«, meinte er widerstrebend, aber Emily sah, wie sein Gesicht aufleuchtete.
    Vorsichtig, fast zaghaft näherte sich Marcus dem Fuß der Mauer, nahm das Seil in beide Hände, stemmte die Füße gegen

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