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Die Eisfestung

Titel: Die Eisfestung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
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hing jetzt mit seinem halben Körper aus der Öffnung; um nicht herunterzufallen, hatte er sich mit den Kniekehlen in die untere Stange des Geländers eingehakt, das an dem Loch vorbeiführte. Seine ausgestreckten Finger griffen nur wenige Zentimeter über Marcus’ hin und her schaukelndem Kopf in die Luft.
    »Greif nach oben!«, zischte er durch seine zusammengepressten Zähne. »Ich zieh dich rauf.«
    Marcus unternahm eine übermenschliche Kraftanstrengung. Er stemmte einen Fuß gegen die Mauer, löste eine Hand von dem Seil, reckte sie nach oben, fasste wieder das Seil, zog sich hoch – und kam ein großes Stück voran. Seine andere Hand reckte sich nach oben, verharrte einen Augenblick unschlüssig – und wurde von Simon so fest gepackt, dass Marcus vor Schmerz aufschrie. Sofort begann Simon, sich rückwärts durch das Loch zu schieben, mit seiner freien Hand kräftig nachhelfend. Marcus schien plötzlich schwerelos durch die Luft zu spazieren und wie durch Zauberkraft die Mauer hinauf zu schweben. Sekunden später hatte er die Öffnung erreicht. Einen Augenblick lang hingen sein Hintern und seine Beine noch in der Luft, dann packte ihn eine Hand hinten an seinem Gürtel und zerrte ihn hinein. Er war verschwunden. Ein leiser Aufschrei war zu hören.
    Emily stand schon am Seil bereit. Als Marcus nicht mehr zu sehen war, griff sie sofort danach und kletterte hoch. Mit wilder Entschlossenheit setzte sie Hand vor Hand, achtete nicht auf ihre Füße, die immer wieder abrutschten, oder auf die Schmerzen in ihren Muskeln. Ihren Blick hielt sie starr auf das Stück Mauer direkt vor sich geheftet, aber sie wusste, wie weit es noch bis oben war und dass sie nur wenige Schritte von der Ecke des Turms trennten. Wie still es war. Kein Laut kam von Marcus oder Simon. Ihre Stiefel hämmerten auf den Stein. Das Blut pochte ihr in den Ohren.
    Hand vor Hand. Schritt auf Schritt. Das Ende der steilen Schräge war erreicht. Sie fand jetzt besseren Halt auf den Steinen, konnte sich fast wie auf einer Leiter nach oben ziehen und schieben. Ihre Schultern knackten, sie hatte das Gefühl, als würden ihre Muskeln gleich zerreißen. Auf dem Kletterseil in der Schule hatte sie es noch nie bis oben geschafft, aber daran wollte sie jetzt besser nicht denken.
    In ihrem Kopf sah sie Harris die Mauer entlanggehen. Er konnte nicht mehr weit weg sein. Große Schritte im Schnee. Lange Beine. Den Kopf nach vorne gereckt. Die Augen weit geöffnet. Näher und näher kommend. Ein Raubvogel, der gleich um die Ecke schießen würde.
    Er musste schon am Turm sein. Er würde hören, wie ihre Stiefel auf den Stein klopften, er würde hören, wie das Seil gegen die Mauer schlug. Er würde losrennen, die Arme gierig ausgestreckt, er würde blitzschnell um die Ecke biegen und nach dem Seilende greifen, es hin und her schütteln, bis sie herunterfiel.
    Hand vor Hand vor Hand.
    Plötzlich wurde sie an der Kapuze gepackt und nach oben gezogen und dann nach vorne durch das Loch gezerrt, sodass sie kaum mehr Luft bekam, weil der Reißverschluss ihres Anoraks ihr in den Hals einschnitt. Zwei Hände griffen nach ihr, sie rutschte bäuchlings über schartiges Mauerwerk und dann abwärts auf eine glatte Steinplatte, wo sie schließlich auf dem Rücken liegen blieb.
    »Schnell, schnell.« Ein Flüstern. Emily wurde unter einer endlosen Schlange von dickem braunen Seil begraben. Ein letztes Mal zogen vier Arme mit einem kräftigen Ruck, dann sauste das Ende des Seils an ihrem Kopf vorbei und fiel mit einem dumpfen Schlag auf ein Metallteil. Simon und Marcus duckten sich neben sie, die Gesichter käsebleich, die Augen aufgerissen.
    Sie hielten den Atem an.
    In der Stille hörten sie, wie Schritte durch den knirschenden Schnee näher kamen.
    Die Schritte hielten an.
    Sie blickten sich nicht an. Emily starrte die Kratzer vorne auf ihren neuen Stiefeln an. Auf dem linken Stiefel waren es fünf, drei tiefe lange, zwei kurze.
    Marcus gab ein leises Wimmern von sich.
    Die Schritte gingen weiter. Reglos lauschten sie. Die Schritte entfernten sich immer weiter entlang der Mauer, bis alles wieder still war.
    Die Schritte waren verschwunden.
    Keiner rührte sich. Keiner sagte etwas.

4
    G ut gemacht, Emily.«
    Sie setzte sich auf, schaute Simon an.
    »Ich hab noch nie jemanden so schnell hochklettern sehen. Du warst schneller als ich.«
    »Das war reine Panik.« Sie fühlte sich ganz benommen. Jeder Muskel tat ihr weh. »Hast du mich hochgezogen?«
    »Ja. Marcus hat auf das

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