Die Eisfestung
die steile Rampe und begann, sich hochzuhieven. Er kam nur sehr langsam voran, machte jedes Mal eine lange Pause, bevor er seinen Griff lockerte und eine Hand weiter nach vorne schob, und baumelte unnötig weit nach rechts und nach links.
Seine Füße suchten krampfhaft nach einem Halt auf dem Stein.
Simon schaute von oben zu. »Mach schon!«, rief er ihm leise zu. »Du musst den Schwerpunkt auf die Mauer verlagern. Setz deine Füße gerade auf. Es ist ganz einfach!«
Marcus antwortete nicht. Emily bemerkte erschreckt, dass sein Gesicht vor Anstrengung knallrot war. Er hatte noch nicht einmal das Ende der Steilrampe erreicht und kämpfte schon um jeden Zentimeter. Zweimal rutschte er mit einem seiner Turnschuhe von der Mauer ab und hätte beinahe das Seil losgelassen, an dem er sich hilflos um die eigene Achse drehte, bevor er wieder in eine stabile Lage kam. Emily konnte hören, wie er hektisch nach Luft schnappte und keuchend wieder ausatmete.
»Gleichmäßig! Einen Schritt nach dem anderen.«, rief sie. »Das machst du gut! Stimmt doch, Simon?«
Simon blies die Backen auf und verdrehte die Augen zum Himmel. »Ja«, rief er. »Machst du großartig. Versuch, mit den Füßen nicht höher zu kommen als mit den Händen. Dann steigt dir das Blut nicht in den Kopf.«
Emily ging ungeduldig vor der Mauer auf und ab. Dann beschloss sie, sich vielleicht besser nicht dort aufzuhalten, wo Marcus herunterplumpsen würde, falls er tatsächlich das Seil loslassen sollte. Sie schlenderte noch einmal zum Turm und schaute um die Ecke.
Und erstarrte vor Schreck.
Mr Harris kam an der Burgmauer entlang direkt auf sie zu. Er befand sich noch am anderen Ende der Mauer, unmittelbar neben dem gegenüberliegenden Turm, und musste gerade um die Ecke gebogen sein. In der Sekunde, als sie ihn bemerkte, stoppte er gerade, hielt die Hand über die Augen und spähte zur fernen Hecke hinüber. Offensichtlich ließ er seine Blicke misstrauisch über die weiten Schneeflächen von Castle Field streichen, um mögliche Eindringlinge aufzuspüren. Das war Emilys Glück, denn hätte er geradeaus geblickt, hätte er sie ganz bestimmt entdeckt.
Emily machte einen Satz zurück, damit er sie nicht sehen konnte. Eiskaltes Blut schoss ihr durch die Adern.
»Er kommt!« Sie rannte zur Mauer, brüllte flüsternd, so laut sie konnte. Ihr Entsetzen wuchs, als sie bemerkte, dass Marcus immer noch nicht höher gekommen war. Er wirkte wie festgefroren in seiner Bewegung, unfähig, auch nur einen Zentimeter rauf- oder runterzuklettern.
»Harris! Er kommt!«
Marcus gab ein verzweifeltes, gurgelndes Geräusch von sich und Simon haute über ihm mit der Faust gegen das verwitterte Mauerwerk.
»Marcus, mach! Schneller! Harris kommt!«
Wieder ein Gurgeln. »Ich kann nicht... mehr.«
»Du musst! Oder wir sind alle geliefert!«
»Scheiße...« Marcus’ Arme zitterten vor Anstrengung. Mühsam löste er die untere Hand von dem Seil und setzte sie vor die obere. Dann machte er dasselbe mit der anderen Hand. Trotzdem kam er dadurch kaum höher. Sein Gesicht war verzerrt, seine Füße glitten immer wieder ab. Über ihm beugte sich Simon so weit wie möglich aus der Öffnung und streckte ihm seine Hand entgegen.
»Ja! Weiter so! Noch ein Stück und dann hab ich dich! Wo ist er?« Das war an Emily gerichtet.
»Beim Turm auf der anderen Seite! Er hat kurz angehalten, aber in einer Minute ist er hier!« Sie war stocksteif vor Grauen, konnte sich nicht entscheiden, ob sie fortrennen oder versuchen sollte, auf der Stelle hochzuklettern. Die weite weiße Schneefläche bot keinerlei Deckung. Vielleicht der Burggraben... Aber dann hätte sie Marcus – und Simon – ihrem Schicksal überlassen müssen. Ihre Augen fuhren zwischen der baumelnden Gestalt an dem Seil und dem Turmeck, wo noch keiner zu sehen war, hin und her. Jeden Augenblick konnte Harris dort auftauchen.
»Mach schon, Marcus!« Seine Füße trampelten wild gegen die Mauer, als wollte er sie hochrennen. Sie konnte hören, wie Simon ihn mal anfeuerte, mal beschimpfte. Seine Hand war weit ausgestreckt. Marcus schaukelte nach rechts und nach links, mit jeder Pendelbewegung arbeitete er sich ein Stückchen nach oben.
Er würde es nie schaffen, und selbst wenn er es schaffte, konnte sie selbst nie und nimmer rechtzeitig bis zur Maueröffnung hochklettern. Sie dachte an ihre Kletterversuche im Turnunterricht – den Schmerz in den Armen, die teigige Schwäche ihrer Muskeln. Sie hatte keine Hoffnung mehr.
Simon
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