Die Eisfestung
an der Küche vorbei, ohne die geringste Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
Hinauf auf den Mauerumgang. Gleich kam die Stelle, an der Marcus seine Eisfalle angelegt hatte... Emily dachte gerade noch rechtzeitig daran und machte im Laufen einen großen Sprung. Sie sah den verräterischen Glanz von Eis unter sich, dann rannte sie weiter.
Durch die Mauerbögen auf der linken Seite konnte sie sehen, dass Simon und Marcus immer noch auf ihren Posten waren. Sie arbeiteten jetzt schweigend. Simon hatte sich wieder weit über die zerklüftete Mauer gebeugt und hantierte mit dem Holzbrett herum.
Kurz vor dem Eckturm war rechts ein schmaler Türbogen aus grob behauenen Steinen in die dicke Außenmauer geschlagen. Emily sauste hindurch und befand sich in einer winzigen, L-förmigen Kammer – ein Abort mit einem Sitzloch, darüber ein halb verfallenes kleines Fenster. Die Öffnung war für einen Mann groß genug.
Das musste die Stelle sein. Unter diesem Fenster hatte die Gruppe mit der Leiter angehalten.
Vorsichtig schlich Emily weiter. Im gleichen Moment hörte sie ein metallisches Quietschen. Die Leiter wurde ausgezogen.
Sie bekam Gänsehaut, starrte ohnmächtig auf das Fenster, darauf gefasst, dass dort jeden Augenblick die Enden einer Leiter auftauchen würden. Draußen hatte wieder ein dichtes Schneetreiben eingesetzt, der Himmel war düster und grau. Der Wald und die Felder waren nur noch undeutlich zu erkennen, Schnee senkte sich über alles.
Warum seid ihr nicht früher gekommen?, fragte Emily stumm die Flocken. Warum nicht vor einer Stunde? Jetzt ist es zu spät.
Ein kratzendes Geräusch drang von der Mauer herein, nur wenig unterhalb des Fensters. Vom Fuß der Mauer ertönte ein aufgeregtes Stimmengemurmel.
Emily schreckte auf. Sie musste irgendetwas tun.
Aber es fiel ihr nur eine einzige, ziemlich lächerliche Handlung ein. Sie zog ihre Mütze herunter und machte einen Schritt nach vorne zum Fenstersims. Dort lag eine dicke Schneeschicht, die noch von den vergangenen Tagen stammte. Sie hielt ihre Mütze an die Kante und schaufelte den Schnee hinein, leise fluchend, wenn der Mützenrand umklappte und der Schnee sein Ziel verfehlte.
Von unten kam ein gedämpftes, regelmäßiges Geräusch.
Jemand stieg die Leiter hoch.
Ihre Hand schaufelte hastiger. Das halbe Fenstersims war inzwischen vom Schnee befreit und die Mütze war prall gefüllt.
Das musste reichen.
Emily vergaß nicht, den Schal bis über die Nase zu ziehen, dann lehnte sie sich weit aus dem Fenster und blickte nach unten. Ein Mann kletterte langsam die Leiter hoch – ein kräftiger Polizist. Er hatte fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Die anderen Männer schauten ihm von unten durch das Schneegestöber aufmerksam zu.
Emily presste den Schnee in ihrer Mütze so fest zusammen, wie sie konnte. Sie spürte, wie der verharschte alte Schnee zu einer dicken, harten Eiskugel wurde. Am liebsten hätte sie den Schneeklumpen herausgenommen und die Mütze behalten, aber sie wusste, wenn sie das tat, konnte es sein, dass der Ball auseinanderbrach, bevor er sein Ziel getroffen hatte. Also packte Emily die klitschnasse Mütze am Rand, drehte sie ein paarmal um sich selbst, bis zwei Zipfel abstanden, und machte einen Knoten.
Dann beugte sie sich wieder hinaus, zielte sorgfältig und schmiss die wollene Eiskugel mit aller Kraft auf den hochkletternden Polizisten hinunter.
Das Geschoss sauste senkrecht in die Tiefe. Durch die langsam fallenden Schneeflocken sah Emily, wie sich das schwarz-weiße Zickzackmuster auf ihrer Mütze in der Luft drehte; sie sah, wie der Polizist auf der Leiter überrascht aufblickte.
Die Eiskugel traf ihn direkt ins Gesicht.
Der Kopf, die Schultern und die Arme des Mannes wurden durch den Aufprall nach hinten gerissen; seine Hände lösten sich von der Leiter. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Aufschrei nach unten.
Emily schaute starr vor Schreck zu.
Der Polizist fiel drei Meter in die Tiefe und das in Sekundenschnelle. Die Männer, die unten standen, waren wie gelähmt, bis auf den Feuerwehrmann, der die Leiter hielt und verzweifelt zur Seite sprang -
Dann landete der Polizist mit einem dumpfen Laut im Schnee.
Emily biss sich die Lippen blutig.
Der Mann lag auf dem Rücken im frisch gefallenen Schnee, alle viere von sich gestreckt, ein dunkler kreuzförmiger Umriss auf der weißen Fläche.
Seine Kollegen stürzten auf ihn zu. Als sie sich niederknieten, blickte einer nach oben und schüttelte
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