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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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niemandem sagen, erst recht keinem Ausländer. Dann aber lachte sie laut und meinte, jetzt käme es vermutlich auch nicht mehr drauf an.
    »Er war auf einem Schiff – wie sagt man? –, einem Schiff gegen Eis. Das Weg macht für andere Schiffe.«
    »Ein Eisbrecher?«
    »Genau, ein Eisbrecher. Er war auf atombetriebenem Eisbrecher. Großvater war auch auf Eisbrecher. Im Krieg er hat geholfen Eis für Schiffe aus dem Westen zu brechen. Vielleicht für dein Großvater.«
    »Wie hieß sein Schiff? Das von deinem Vater, meine ich?« Ich hielt es für eine weitere Frage, die man stellen sollte, wenn man sich über Matrosen unterhielt.
    Sie sagte, sie sei sich nicht sicher, sie hätte es vergessen. Dann dachte sie einige Sekunden nach und antwortete: »
Petrograd
. Eisbrecher war nach Petrograd benannt, wegen Revolution.« Sie lächelte wie man lächelt, wenn man aus dem Gedächtnis eine verloren geglaubte, doch kostbare Erinnerung zutage fördert.
    Am Morgen, als sie noch schlief und ich mir ihren Kopf auf dem Kissen im Profil besah, entdeckte ich, auf zwei Drittel Nasenlänge, eine kleine, von vorn unsichtbare Delle – vermutlich die Folge eines Schlags ins Gesicht von ihrem Vater oder einem raubeinigen Matrosenfreund. Mitten auf den mondweißen Hinterbacken fand ich zueinander passende, dunkle Hautflecken. Und mir fielen die winzigen, gerade erst sichtbaren Falten in ihren Augenwinkeln auf. Ich weiß noch, dass meine Zuneigung dadurch bloß stärker wurde, machten sie Mascha doch zu etwas Realem, etwas Körperlichem, zu einem Menschen, der sterben konnte, allerdings nicht nur sterben.
    Später, als wir in der Küche unseren Tee mit Zitrone tranken – aus Ikea-Bechern, auf Ikea-Stühlen, ein Großteil meiner Wohnungseinrichtung stammte von Ikea, einer Firma, die in Moskau längst so unvermeidlich war wie Tod und Steuerhinterziehung (und Leberzirrhose) –, erzählte sie mir erneut von ihrer Tante, jener, die in Moskau wohnte. Sie sagte, sie und Katja würden sie so oft sehen, wie sie nur könnten, bloß sei das nicht oft genug. Sie sagte, sie würde mich ihr gern bald vorstellen.
    »Vielleicht nächste Woche«, sagte sie. »Oder dann die Woche. Sie lebt allein in Moskau und wird glücklich, wenn wir sie besuchen. Sie wird dich mögen. Ich glaub, sie kennt nicht viele Ausländer. Vielleicht gar keinen. Bitte.«
    Ja, sagte ich. Natürlich käme ich mit zu ihrer Tante. Mascha trank ihren Tee, küsste mich auf die Nase und ging zur Arbeit.
    *
    Bis Mitte November fehlten nur wenige Tage. All der
mokri sneg
war geschmolzen, bloß Reste vom Eis, das sich beim Kälteeinbruch im Oktober gebildet hatte, überdauerten zurückgezogen in Pflasterspalten und den Wunden der Straßen wie ein in einen Hinterhalt geratenes Vorkommando, das auf Verstärkung wartete. Tatjana Wladimirowna sagte: »Kommt herein.«
    Man kann über die Sowjets sagen, was man will, aber sie waren die unübertroffenen Weltmeister des Parketts. Parkett in Form der verschränkten Bumerangs der Chruschtschow-Ära breitete sich hinter der schlichten Wohnungstür in alle Richtungen aus, unterbrochen nur von einem verschlissenen turkmenischen Läufer mitten im Flur. An der Decke hing ein glitzernder Leuchter aus kommunistischen Tagen, prächtig anzusehen, solange man ihm nicht zu nahe kam.
    Wir zogen die Schuhe aus und folgten Tatjana Wladimirowna über den Flur. Ich habe ihre Wohnung viel genauer in Erinnerung, als mir lieb ist. Wir gingen am Schlafzimmer vorbei, zwei Einzelbetten, nur eines gemacht, ein dunkler Kleiderschrank und eine weiße Kommode mit einem Zierspiegel. Ein zweites Zimmer stand halbvoll mit Packkartons, dann kam die Tür zum Bad, danach die Küche mit dem abgetretenen Linoleum und einem primitiven Kühlschrank. An den Wänden des Wohnzimmers hing eine braune, seltsam haarige Tapete, die sich an einer Stelle bereits von der Decke löste, ein Buchregal quoll über mit alten, sowjetischen Enzyklopädien und Berichten, ein grüner Fries bedeckte einen großen Holztisch. Darauf war die Art russischer Partykost ausgelegt, vor der mich nur graute, so üppig wie ungenießbar. Vermutlich hatte sie das Essen eine ganze Monatsrente gekostet und vierzehn Tage Arbeit in der Küche, dieser verschwitzte Fisch, dazu in Aspik eingelegte, unidentifizierbare Fleischteile von irgendwelchen Tieren, in Stückchen gebrochene russische Schokolade, kalt werdende Bliny, Sauerrahm und ein besonders süßer Käse, der in Röllchen gebraten wird.
    Die Fenster blieben

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