Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
dass es elf verschiedene Arten Lachs in den Flüssen von Kamtschatka gebe?
Ich schaltete auf Autopilot. Meine Blicke wanderten zu Maschas wohlgeformten Schenkeln, aber dann erwähnte Tatjana Wladimirowna etwas, wie es alte Russen oft tun, was in mir das Gefühl weckte, unendlich naiv zu sein, so als wäre ich, verglichen mit dem, was sie selbst durchgemacht und erlebt hatte, erst gestern geboren worden – eine extreme Version jenes Gefühls, das einen vielleicht mit zwölf Jahren überkommt, wenn die Eltern Unverständliches über Steuern reden oder davon, dass sich jemand scheiden ließ. In Russland dagegen ist es Onkel Soundso, der in ein Gulag kam und nie zurückkehrte, oder irgendeine profane, alltägliche Heldentat oder Unziemlichkeit – jemand hatte bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr mit den Eltern in einem Zimmer gelebt, die Post war zensiert worden, oder man hatte drei Tage lang für Kartoffeln angestanden.
Sie fragte mich, ob ich in Sankt Petersburg gewesen sei. Nein, noch nicht, antwortete ich, doch wolle mich meine Mutter besuchen, bald hoffentlich (es stimmte, sie hatte tatsächlich damit gedroht), und wir hätten vor, zusammen hinzufahren.
»Ich bin aus Sankt Petersburg«, sagte sie. »Aus Leningrad. Ich wurde in einem Dorf in der Nähe von Leningrad geboren.«
In dem Dorf, fuhr sie fort, hat ihre Mutter Kühe gemolken und heimlich gebetet. Ihr Vater arbeitete in einer Kolchose. Nach seinem Tod zogen sie in die Stadt, erzählte Tatjana Wladimirowna weiter, kurz vor dem Großen Vaterländischen Krieg; damals war sie sieben oder acht Jahre alt. Während der Belagerung verlor sie eine Schwester und ihre Mutter. Ein älterer Bruder, fuhr sie immer noch lächelnd fort, wurde in der Schlacht um Kursk getötet. Einige Jahre nach dem Krieg zog sie mit ihrem neuen Mann, dem Mann auf den Fotos, nach Nowosibirsk, einer Universitätsstadt in Sibirien. Es war schon seltsam, sagte sie, aber in Sibirien hätten sie sich beinahe frei gefühlt, freier als vorher in Leningrad oder später in Moskau. Ihr Mann war Wissenschaftler, und – hier drohte mich mein Russisch im Stich zu lassen, doch bin ich mir nicht einmal sicher, ob mein Englisch dafür genügt hätte – ich glaube, er half, eine Farbe zu entwickeln, die in Raketensilos oder etwas Derartigem Verwendung fand und die Hitze aushielt, die beim Zünden der Raketen entstand.
»Er war bedeutender Wissenschaftler«, sagte Katja auf Englisch.
»Deshalb hat Tatjana Wladimirowna auch diese große Wohnung im Zentrum von Moskau«, ergänzte Mascha auf Russisch. »Wegen seiner Verdienste fürs Vaterland.«
»Ja«, sagte Tatjana Wladimirowna. » 1962 hat Kamerad Chruschtschow meinem Mann diese Wohnung gegeben. Damals war es ein Problem, wie man Raketen abschießen kann, ohne die Silos in Brand zu setzen. Pjotr Arkadjewitsch hat hart gearbeitet, aber am Ende die Antwort gefunden.«
Sie selbst arbeite auch noch, sagte sie, Teilzeit, als Führerin beim Gorki-Park in einem Museum, das irgendeinem berühmten russischen Wissenschaftler gewidmet war, von dem ich noch nie gehört hatte. Sie bewies jene Zurückhaltung, die alte Leute manchmal gegenüber jüngeren an den Tag legen, breitete im Eiltempo ihre Lebensgeschichte aus, um uns nicht zu viel unserer kostbaren jugendlichen Zeit zu stehlen. Ich mochte Tatjana Wladimirowna. Ich mochte sie auf Anhieb, und ich mochte sie bis zum Schluss.
»Also, Nikolai«, sagte sie, »was halten Sie von unserem kleinen Plan?«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete, und sah zu Mascha hinüber, die ihre überkreuzten Beine öffnete und nickte.
»Ich finde, es ist ein ausgezeichneter Plan«, sagte ich in dem Bemühen, ihr zu gefallen.
»Glaube ich auch«, sagte Tatjana Wladimirowna, »wirklich ausgezeichnet.«
Alle lächelten.
»Nikolai!«, rief Tatjana Wladimirowna, sprang auf und wechselte das Thema: »Mädchen! Ihr habt ja noch nichts gegessen.«
Ihr Lob auf den Lippen, standen wir um den Tisch, während Tatjana Wladimirowna uns Teller gab und dafür sorgte, dass ich den Fisch bekam, den ich nicht mochte. Ich achtete meinerseits darauf, mir möglichst viele kalte Bliny zu nehmen, unter denen ich ihn verstecken konnte.
Wir setzten uns wieder. Tatjana Wladimirowna fragte Katja nach ihrem Studium.
»Ziemlich anstrengend«, erwiderte Katja, »aber interessant.«
Wir verfielen in ein wohlwollendes, doch etwas verlegenes Schweigen.
»Fisch muss schwimmen!«, erklärte Tatjana Wladimirowna, stand auf, ging in
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