Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Unten angekommen, ließ sie mich nicht wieder los.
Auf der anderen Seite der Twerskaja spazierten wir eine Weile in der Mitte des Bulwar. Wie jedes Jahr, wenn die Saison vorbei war, hatte die Stadtbehörde sämtliche Blumen aus den Beeten reißen lassen, hatte sie mitten in der Nacht davongekarrt wie zum Tode verurteilte Gefangene, damit sie nicht in aller Öffentlichkeit starben. Die Russen trugen ihre Übergangsmäntel; die der Frauen waren aus Wolle oder mit Leopardmuster, leichte Mäntel, mit denen man vorliebnahm, bis es Zeit für die eingemotteten Fellmäntel wurde. Wie eingesalzene Fleischstücke auf der Schlachtertheke lagen auf den Parkbänken schneeberieselte Penner und Obdachlose. Schmelzende Flocken betüpfelten die Motorhaube des Schiguli in meiner Straße.
Sobald wir in der Wohnung waren, schob Mascha eine CD ein, zog den Mantel aus, und dann geschah, langsam, wie zuvor schon einige Male, auch alles Weitere im Takt der Musik.
Anschließend ließ sie ein Bad ein. Sie zwängte sich hinter mich in die Wanne, so dass ich am Steiß ihr kurzgeschnittenes Schamhaar spürte; die langen Beine schlangen sich um meinen weichen Bauch. Aus allernächster Nähe sah sie nun die Haarbüschel auf meinen Schultern und in der oberen linken Rückenhälfte, diese asymmetrischen Scherze der Natur, auf die wohl niemand besonders stolz ist. Dann sang sie halb, halb summte sie ein sentimentales russisches Volkslied und fuhr mit den feuchten Fingern durch mein Haar. Mir kam es wie eine neue Weise des Nacktseins vor, unsere Körper weder Prunkstücke noch Waffen, nur schlaff und offen. Sich so miteinander im Wasser zu suhlen, fühlte sich ehrlich an und die streifige Kunstmarmorwanne mit den nicht funktionierenden Jetdüsen wie unser kleiner Mutterleib.
In der Wanne, das weiß ich noch, erzählte sie, wie stolz sie als kleines Mädchen auf ihren Vater gewesen war und wie sich alles verändert hatte, damals, als das alte Imperium unterging und man aufhörte, ihrem Vater ein Gehalt zu zahlen. Zu jener Zeit fing er ernsthaft zu trinken an, sagte sie und berichtete dann, wie man ihr, als sie noch sehr jung gewesen war, in der Schule beigebracht hatte, irgend so einen Blödmann aus der Stalinzeit zu verehren, der ihren Vater anzeigte, weil er Korn hamsterte. Lieder hatten sie über ihn gesungen, Bilder von ihm gemalt, von diesem kleinen sibirischen Scheißer, bis ihre Lehrerin eines Tages sagte, sie sollten aufhören, diese Lieder zu singen, und die Bilder sollten sie zerreißen. Da hatte sie dann gewusst, dass etwas Schreckliches geschehen war.
»Hast du dich nicht befreit gefühlt?«, fragte ich. »Als es mit dem Kommunismus vorbei war?«
»In Murmansk«, erwiderte sie, »haben wir uns nur arm gefühlt. Und uns war kalt. Die Leute dort sagten: ›Freiheit kann man nicht essen.‹«
Als sie siebzehn war, erzählte sie, musste ihre Mutter operiert werden. Wie für alles, für das in der Theorie die Regierung aufkam, von der Hebamme, die einen zur Welt brachte, bis zur Grabesstelle, musste gezahlt werden – musste der Arzt bestochen und die Medizin gekauft werden, die Seife, aber ebenso das Garn, mit dem sie hinterher vernäht wurde. Also ging Mascha nach nur einer Woche wieder vom College ab, um auf dem Marinestützpunkt in der Kantine zu arbeiten. Noch heute schickte sie jeden Monat Geld an ihre Mutter. Übrigens hatte ich gut geraten: Sie sei vierundzwanzig, sagte sie, Katja zwanzig.
Ich fragte sie, wie es für sie war, von der Schule abzugehen und zu arbeiten, der Mutter zuliebe auf jede Chance zu verzichten.
»Das war normal«, antwortete sie. »Weißt du, Kolja, damals hatten wir keine großen Hoffnungen. Schlechtes Essen, schlechte Männer, jede Menge Pech. Daran war nichts Neues.«
Natürlich offerierte sie die richtige Mischung, ihre Stärke und ihr Unglück. Sie war hart im Nehmen und weltgewandt, irgendwie älter als ich und doch auch jünger (dabei war unser Altersabstand für Moskauer Verhältnisse durchaus respektabel). Zugleich wirkte sie machtlos und beinahe einsam. Sie zapfte das richtige Gemenge von Hoffnungen an: die Hoffnung, jemanden zu retten, zumindest die Hoffnung, jemanden retten zu können, die wohl allen Menschen gemein ist, und die Hoffnung, selbst gerettet zu werden.
Ich wusste, ich besaß nicht so viel Geld, wie sie vermutlich erwartete, aber ich meinte, ihr Sicherheit bieten zu können.
Ich fragte sie, auf was für einem Schiff ihr Vater gedient hatte. Sie antwortete, das dürfe sie
Weitere Kostenlose Bücher