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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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geschlossen, und die Heizung – noch wie in der alten Zeit zentral von der Stadtverwaltung reguliert – war unmenschlich warm. Tatjana Wladimirowna deutete auf ein kratziges Sofa. »Tee«, sagte sie, eine Feststellung, keine Frage, und ging.
    Die beiden Frauen setzten sich und begannen zu flüstern. Ich stand wieder auf und schaute mich neugierig um. Tatjana Wladimirownas Wohnung wies zum Bulwar hin und zum Tschistyje Prudy (dem ›sauberen Teich‹ – typisches russisches Wunschdenken, zumindest was die Wasserqualität betraf, auch wenn der Teich in einem zunehmend attraktiver werdenden Teil von Zentralmoskau lag). Ein großes Fenster blickte auf den Weiher und die Bäume, die ihn umsäumten. Das Beduinenzelt auf der Plattform im Wasser, im Sommer ein Restaurant, war längst abgebaut, und die Gondeln, von denen sonst überteuerte Serenaden geboten wurden, lagen aufgebockt am Strand. Am gegenüberliegenden Ufer stand ein seltsames, blaues, mit den Reliefs realer und imaginärer Tiere verziertes Gebäude, eine Schönheit, wie man sie in dieser Stadt manchmal zufällig findet, frappierend wie Blumen auf einem Schlachtfeld. Ich konnte Eulen erkennen, Pelikane, zweiköpfige Greife, doppelzüngige Krokodile und zum Sprung ansetzende, doch irgendwie verzagt wirkende Jagdhunde. Der unentschlossene Novemberhimmel erinnerte mich an einen Schwarzweißfernseher, dessen Bild noch nicht eingestellt worden war.
    An einer Zimmerwand hing eine Reihe Teller mit klassischem Sankt Petersburger Blaugoldmuster, daneben eine Urkunde von einer technischen Fachhochschule in Nowosibirsk. Das Radio war ein alter Bakelitapparat in Mahagoniimitat, groß wie eine Truhe, die sich oben öffnen ließ. Im Bücherregal standen zwei gerahmte Schwarzweißfotos. Auf dem einen hockte ein junges Paar auf windumtosten Felsen am Meer; sie lachte und schaute ihn an, er, vorzeitig kahl, trug eine strenge Brille und schaute ernst in die Kamera. Das Paar wirkte in einem Maße glücklich, wie es meiner Meinung nach Menschen in der Sowjetunion gar nicht gewesen sein konnten. In der unteren rechten Ecke der Aufnahme stand in weißen Druckbuchstaben ›Jalta 1956 ‹. Das zweite Foto zeigte ein Mädchen, das langgestreckt in einer Art übergroßem Hamsterrad steckte, mit den Händen den Rand umklammerte und offenbar an einer Übung in Synchrongymnastik teilnahm: Zwei weitere Räder mit einem Mädchen in ihrem Innern rollten ins Bild. Als ich den Kopf schief legte und genauer hinsah, stellte ich fest, dass das Mädchen im Rad identisch war mit der jungen, schlanken Frau auf dem Strandfoto, vielleicht einige Jahre jünger. Sie trug Tennisshorts, die aufregender aussahen als vermutlich beabsichtigt, ein breites Grinsen im Gesicht. Das war sie, kapierte ich schließlich mit schief angewinkeltem Kopf. Das war Tatjana Wladimirowna.
    Hinter dem Bufett auf dem Tisch hing noch ein Foto, das einen Mann mit Brille zeigte, wie er, ein wenig älter diesmal, an ebendiesem Tisch saß, auf dem geordnete Papierstapel, ein Aschenbecher und ein altmodisches Wählscheibentelefon zu sehen waren. Er hatte sein Gesicht nur halb dem Fotografen zugewandt, als wäre die Arbeit zu wichtig, um sie ganz vergessen zu können.
    »Das ist mein Mann«, sagte Tatjana Wladimirowna auf Russisch. Sie stand hinter mir mit einem kleinen, silbernen Samowar in der Hand. »Pjotr Arkadjewitsch.«
    Sie machte Tee auf russische Weise, schenkte einen Schuss extrem starkes Gebräu aus der Kanne ein und goss dann dampfend heißes Wasser aus dem Samowar dazu. Anschließend reichte sie uns kleine Teller mit Marmelade sowie Teelöffel, damit wir die Marmelade zum Tee essen und abwechselnd nippen und schlürfen konnten, allerdings in einem Rhythmus, den ich nie ganz hinbekam.
    Wir redeten. Manchmal erinnerte mich unsere Unterhaltung an ein Bewerbungsgespräch, manchmal an einen Vortrag des Touristenverbandes über russische Geographie.
    »Was sind Sie von Beruf, Nikolai?«
    »Ich bin Anwalt.«
    »Und was ist Ihr Vater von Beruf?«
    »Er ist Lehrer. Und meine Mutter ist Lehrerin. Mittlerweile sind sie aber beide in Pension.«
    »Mögen Sie Moskau?«
    »Ja, sehr sogar.«
    »Und wo sind Sie in unserem Russland noch gewesen, außer in Moskau?«
    Ich sagte, ich hätte mir ein, zwei Klosterstädte in der Nähe von Moskau angesehen, ihre Namen aber leider vergessen.
    Sei ich denn noch nicht in Sibirien gewesen, um ›unseren großen Baikalsee‹ zu sehen? Ob ich denn wisse, dass er der größte See der Welt sei? Und

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