Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Allerdings war es bald, ich bin mir sicher, es war sehr bald, innerhalb einer Woche, bestimmt nicht viel länger, dass ich mich aufmachte, Tatjana Wladimirowna zu besuchen. Nur war ich mir keineswegs sicher, sie auch anzutreffen.
Seit dem Tag, an dem wir alle zur Bank gegangen waren, um zu unterschreiben und die Geldscheine zählen zu lassen, hatte ich Mascha und Katja nicht mehr gesehen. Das war etwas, womit ich nicht gerechnet hatte, dieses plötzliche Ende. Immer und immer wieder wählte ich Maschas Nummer, hörte aber nur das russische Störzeichen – drei hohe Töne, die so schrill anfingen, dass sie Glas zerspringen oder Hunde durchdrehen ließen, um dann immer höher zu werden – und die entmutigende Bandansage, laut der ihr Telefon abgestellt sei oder keinen Empfang habe. Ich versuchte es erneut, als ich anfing, mir um die alte Frau Sorgen zu machen. Schließlich ging ich zu Tatjana Wladimirownas alter Wohnung und klingelte.
An einem schönen warmen Samstag stand ich im Schatten ihres Hofes und klingelte ein, zwei Minuten lang. Irgendwann öffnete mir eine Japanerin; ich lächelte, ging ins Haus und die Treppe hinauf. Dann klopfte ich an Tatjana Wladimirownas Tür, leise zuerst, als schliefe drinnen ein Baby oder als wollte ich nicht, dass zur Tür kam, wer immer sich drinnen nun aufhielt. Dann klopfte ich lauter und lauter, schneller und schneller, fast, als käme ich vom KGB in einer Nacht, in der es viel zu tun gab. Doch niemand öffnete, nur eine dicke Blondine in Morgenmantel und Lockenwicklern kugelte von oben eine halbe Treppe hinab, umklammerte das Geländer und starrte mich an, bis ich ging.
Draußen blieb ich auf dem Weg um den Teich stehen. Längst war er trocken und staubig; weißgrauer Staub stieg in Wölkchen auf, legte sich auf meine Hosenbeine und schmeckte nach Kreide. Ich ging zur Metro und durch die gläserne Schwingtür, eine schwere Tür, die zurückpendelte und die Passagiere wie ihre Geschichte wieder einzuholen drohte. Ich hatte es aufgegeben, sie offen zu halten, wie ich sie früher für jeden offen hielt, der nach mir kam, ließ sie nun los, ohne zurückzuschauen und verzichtete auf die Gelegenheit, ein wenig Erbarmen in dieser kämpferischen Stadt zu zeigen.
Ich fuhr mit der Metro raus nach Butowo: Theoretisch hätte die Zeit für Tatjana Wladimirowna gereicht, um ihren Umzug zu bewerkstelligen. Der Taxifahrer, den ich mir vor der Station heranwinkte, war ein fröhlich besorgter Usbeke, der erklärte, dass die Muslime sich bald, jeden Augenblick jetzt, gegen die Russen und den Rest der Welt zum letzten Krieg erheben würden. Als wir am Stadtrand in die Straße einbogen, sah ich, dass die gegenüberliegende Seite sich in einen Dschungel verwandelt hatte, Bäume und Büsche wucherten in russischer Sommerhast. Leute tröpfelten in den Wald zwischen den alten Holzhäusern, Babys oder Flaschen im Arm. Wir hielten vor dem Gebäude auf der Kazanskaja, Tatjana Wladimirownas Gebäude – oder das von Stepan Mikhailowitsch, von MosStroiInvest oder von niemandem.
Auf der Gegensprechanlage drückte ich die Nummer der Wohnung, die wir uns im Winter angesehen hatten. Keine Antwort. Ich drückte alle Klingelknöpfe gleichzeitig und in wahlloser Folge. Diesmal funktionierte der Trick nicht. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass die Drähte der Klingelanlage, ein grüner, ein roter und ein blauer, unten lose heraushingen. Ich hämmerte an die Metalltür. Ich ging zur anderen Straßenseite und blickte am Gebäude hinauf.
Da die Sonne hinterm Haus stand, musste ich die Augen zusammenkneifen. Soweit ich erkennen konnte, brannte nirgendwo Licht. Lange starrte ich ins Eckfenster hinter dem Balkon im siebten Stock der Wohnung, die Tatjana Wladimirowna gehören sollte. Keine Spur von Leben. Ich meinte, gerade noch die Küchenschränke an der Rückwand ausmachen zu können, sonst nichts. Der Balkon war leer. Dann wanderte mein Blick weiter nach oben, und ich sah, dass im obersten Stock noch keine Fenster eingesetzt worden waren. Im Penthouse hockte eine fette Moskauer Krähe mitten auf einer vorspringenden Fensterbank.
Ich machte mich auf den Rückweg zur Metro, beschloss aber – Fragen kostete ja nichts –, mich nach dem Gebäude zu erkundigen, da ich wusste, dass ich nie wieder nach Butowo kommen würde. Also lief ich durch das hoch wuchernde Gras im Hof der nächstgelegenen Datscha zur Tür. Den riesigen braunen Hund, der neben dem Holzstapel schlief, habe ich erst hinterher gesehen.
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