Die Eiskrone
konnte sehen.
Da stand Nelis. Er hatte einen langen, dunklen Stoppelbart, und eine Locke hing ihm in die Stirn. An seiner Seite sah sie Wuldon.
»Ich kann sehen!« rief sie. »Laßt mich schauen bitte. Ich kann wieder sehen!«
Nelis stützte sie, denn sie fühlte sich noch ziemlich schwach. Sie befanden sich auf einer Lichtung. Es mußte Vormittag sein. In einiger Entfernung sah sie Männer, und zwischen zwei Bäumen standen etliche gesattelte Duocorns.
Einige Männer trugen Uniform, andere Zivilkleidung oder das Grün der Waldläufer. Die kleine Flüchtlingsgruppe hatte sich vervielfacht.
»Ich kann sehen!« rief sie wieder. Erst jetzt wußte sie, wie groß ihre Angst gewesen war, sie könnte für immer blind sein. »Wissen die anderen, was geschehen ist?« fragte sie.
»Nicht alles. Eine solche Geschichte kann man nicht allen erzählen. Zu wissen, daß man von Maschinen versklavt worden war …« In seiner Stimme klang Zorn. »Und wie weit diese Versklavung gegangen ist …«
»Ludorica und die Krone …« Sie spann seinen Gedanken weiter. »Ihr hattet nicht einmal direkten Kontakt damit, und schon bei euch war die Wirkung so spürbar. Wie wird es erst bei denen sein, welche die Kronen tragen?«
Er schaute irgendwohin in die Ferne, als solle sie nicht sehen, was in seinen Augen lag. »Wir müssen es wohl zu erfahren versuchen. Die Wirkung scheint sehr verschieden zu sein. Diese Männer hier haben sie alle überwunden. Bei manchen war die Betäubung tiefer und dauerte länger, aber jetzt sind sie diesem Einfluß entzogen. Aber wie denen gewesen sein mag, welche die Kronen tragen …«
»Hier, m’Lady«, meldete sich Wuldon zurück. »Sie müssen essen. Ihre eigene Nahrung.« Roane saugte fast gierig die Tube aus, denn jetzt bemerkte sie, wie entsetzlich hungrig sie war.
Ihre Erholung schien das Signal zum Aufbruch zu sein. Sergeant Wuldon stellte seine Leute auf. Sie ritten zu zweien oder dreien an Imfry vorüber und salutierten. Wuldon, Mattine und zwei andere blieben bei ihnen zurück.
»Und wir müssen auch wieder weiter«, sagte Imfry. »Allein kannst du noch nicht reiten. Wir haben ein Tier, das zwei trägt, und das nehmen wir beide.«
Als Imfry aufgesessen war, hob Wuldon sie hinter ihn auf das Duocorn, als sei sie eine Feder.
»Wohin reiten wir jetzt?« fragte sie.
»Wir schnüffeln nur ein wenig herum, bis wir wissen, was los ist. Vorerst folgen wir dem Fluß. Die Männer reiten die ganze Gegend ab, um möglichst viel zu erfahren. Wenn wir einen offenen Pfad finden, reiten wir nach Urkermark.«
»Zur Königin?«
»Ja – falls es noch eine Königin gibt.« Seine Stimme klang kühl, fast unbeteiligt. »Wir müssen selbst herausfinden, was dort geschehen ist.«
18
Der Raum war warm, fast zu warm, aber das Licht der beiden Lampen auf dem Tisch und des Feuers im Kamin konnten die Schatten aus den Winkeln nicht vertreiben. Trotz ihrer Müdigkeit sah sich Roane interessiert um.
Sie befand sich in einem Privatraum im Oberstock des Gasthauses zu den Drei Wanderern, einen halben Tagesritt von Urkermark entfernt. Auf einer Bank vor dem Kamin lagen ihre nässedampfenden Mäntel, und noch immer klatschte der Regen an die Fenster. Das schlechte Wetter war der beste Schutz für sie gewesen. Nur so hatten sie so weit ins Land vordringen können.
Drei Tage. Der erste war für Roane nur eine undeutliche Erinnerung. Die Nacht hatten sie in der Hütte eines Waldhüters verbracht, und dort waren die ersten Nachrichten bei ihnen eingetroffen.
Reveny war ein Chaos. Das Durcheinander hatte in den obersten Rängen die größten Ausmaße angenommen. Die Bauern und Herdenbesitzer, die »kleinen« Leute, erholten sich zuerst von ihrer Verwirrung. Allerdings wurden sie dann wieder von den seltsamen Handlungen und Anordnungen ihrer Führer erschreckt.
Einige schienen wahnsinnig zu sein, andere benahmen sich, als ob sie keines klaren Gedankens fähig wären; sie ordneten Dinge an, die von der eigenen Dienerschaft nur mit ungläubigem Kopfschütteln abgetan wurden. Überall brachen Kämpfe aus, und fragte man die Streithähne, weshalb sie kämpften, dann wußten sie keinen Grund zu nennen. Banden hatten sich zusammengefunden, die aus dem Unglück der anderen ihren Vorteil zogen.
Während der allgemeinen Verwirrung hatten sie wenig zu befürchten; sie ritten also ganz offen weiter. Je mehr sie sich Urkermark näherten, desto wilder wurden die Geschichten, die man sich von den Ereignissen erzählte. Imfry
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