Die Eiskrone
griff nach seiner Schulter. Schlaff fiel er zurück. Wenn er noch lebte, mußte sie ihn schnellstens aus diesem vergifteten Raum wegbringen. Irgendwie schaffte sie es, daß sie unter seine Arme griff, ihn anhob und zum Ausgang schleifte. Auch über die Stufe mußte sie ihn zerren, aber dann hatte sie ihn endlich draußen im Tunnel. Sie suchte nach seinem Herzschlag – und fand ihn in dem Augenblick, als der Fels unter ihr bebte. Sie schrie. Sollte nun der ganze Tunnel über ihnen zusammenstürzen?
Sandar hustete schwach und bewegte den Kopf. Seine Hände tasteten umher, als wollten sie sich festhalten.
Roane verstand. Das war die Erschütterung der Bremsraketen gewesen. Das Beiboot war gelandet.
Nun mußte sie schnellstens verschwinden. Sie stand auf. Sandar war nicht tot, und in kürzester Zeit befand er sich in den geschickten Händen seiner eigenen Leute. Wenn sie mit Imfry entkommen wollte, dann konnte es ihr nur jetzt gelingen. Nelis lehnte noch immer an der Wand, aber jetzt hatte er die Arme ausgebreitet und den Kopf lauschend vorgestreckt, als wolle er das hören, was er nicht sehen konnte. Als sie sich bewegte, wandte er ihr das Gesicht zu.
»Wer ist dort?« fragte er. Seine Stimme klang jetzt sicherer.
»Ich bin Roane. Wir müssen weg von hier.«
Sie berührte ihn leicht und spürte, daß sein Körper eisenhart vor Spannung war.
»Wohin gehen?« fragte er.
»Hier heraus. Schnell! Sie werden kommen und Sandar suchen, um diese Geräte anzuschauen. Sie dürfen uns hier nicht finden!«
»Wer darf uns nicht finden?« Ihr Drängen schien ihn nur noch widerspenstiger zu machen.
»Onkel Offlas. Die Leute vom Boot. Wir müssen gehen!«
»Du hast Angst«, sagte er. »Ich spüre, daß du Angst hast. Wer bist du?«
»Ich bin Roane!« Sie war den Tränen nahe. Aber seine Stimme wurde immer klarer, und sein Gesicht war nicht mehr ausdruckslos, sondern wach und gespannt. Aber er kannte sie nicht. Was stimmte mit ihm nicht?
»Roane … Und wer bin ich?«
Sie zitterte. Ihre schreckliche Angst hatte sich also bewahrheitet. »Du bist Colonel Nelis Imfry. Erinnerst du dich an gar nichts?«
Er schien eine direkte Antwort vermeiden zu wollen. »Hast du Angst um dich selbst?« fragte er.
»Ja, um mich«, antwortete sie ehrlich. »Und um dich. Sie haben allen Grund, uns zu verfolgen. Wir müssen jetzt gehen.« Sie griff nach seiner Hand. »Komm jetzt!«
Und sie zog ihn mit sich den Tunnel entlang. Nach einer halben Ewigkeit stand sie mit ihm im Freien. Sie hatte gehofft, daß Imfry wieder sehen könnte, sobald er den Tunnel verlassen hatte, aber sie mußte ihn noch immer führen.
Es wehte ein leiser, kühler, süßduftender Wind. Roane sah, wie er ihm sein Gesicht entgegenhob.
»Jetzt kann ich sehen«, sagte er scheinbar unbewegt.
Sie seufzte vor Erleichterung und ließ seine Hand los. Sie selbst sah trotz der Nachtbrille noch immer nicht ganz klar. Die Vorstellung, daß der Schaden von Dauer sein könnte, bedrückte sie entsetzlich.
»Es ist seltsam«, fuhr Imfry fort, als spreche er zu sich selbst. »Irgendwie habe ich ein Gefühl der Leere.« Und dann sprach er weiter: »Ich bin Nelis Imfry vom Haus Imfry-Manholm. Ich bin Colonel im Dienst Ihrer Majestät, der Königin Ludorica von Reveny. Ich bin ICH. Ich bin Nelis Imfry.«
Und dann schwieg er und sah zu den Sternen hinauf, deren Licht durch die windgezausten Bäume fiel. Eine Mondsichel stand über dem Horizont am samtschwarzen Himmel.
»Ich erinnere mich, aber diese Erinnerungen sind wie von einem Schleier verhüllt. Ich weiß, daß ich Nelis Imfry bin und alles übrige wahr ist.«
»Ja«, sagte sie.
Ihre Antwort schien ihn aus seinem tranceähnlichen Zustand herauszuholen. Er drehte sich voll zu ihr um und sah sie lange und nachdenklich an.
»Erzähl mir, was gewesen ist«, bat er, »während ich in der Dunkelheit war.«
»Als ich Sandar aufzuhalten versuchte, traf der Energiestrahl eine der Säulen. Die Folge davon war eine Kettenreaktion. Alle Installationen sind zerstört, und die Kronen gibt es nicht mehr.« Ob er das verstand, was sie ihm da berichtete?
Er runzelte die dunklen Brauen. »Kronen? Und Säulen?«
»Ja. Die Installationen, welche die Psychokraten hinterlassen haben, um diese Welt zu regieren.«
»Reveny wird von der Königin regiert«, erklärte er bestimmt.
»Ja, jetzt schon.« Hatte die Zerstörung der Krone auf Reveny nicht vielleicht doch das Schicksal von Arothner heraufbeschworen?
»Du sprichst von Dingen, die ich nicht
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