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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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für die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis – bis eben das Omsk-Schild auf ihm gelandet war. So oder so ähnlich hatte man es ihm erklärt. Vielleicht war das Omsk-Schild selbst auch gar nicht schuld gewesen, dachte er bei sich, vielleicht hatte der Hippocampus vor lauter Stresshormonen von sich aus ein archaisches Notfallprogramm gestartet und kurzerhand ein paar Inhalte von der überlasteten Festplatte gelöscht oder zumindest fürs Erste an das Unterbewusstsein delegiert, damit die Seele noch eine Chance hatte hinterherzukommen. Oder waren es die Handy-Strahlen gewesen?
    »Hatte sie jemals traumatische Erlebnisse?« Die Ärztin, die er gerufen hatte, setzte eine Spritze in die Armbeuge seiner Frau.
    |38| »Nun ja, sie kommt aus der Politik, wissen Sie.«
    »Ich will Sie nicht beunruhigen, aber eine so ausgeprägte retrograde Amnesie wie bei Ihrer Frau ist oft auch verbunden mit einer anterograden Amnesie, das heißt, dass auch ihr Neugedächtnis in Mitleidenschaft gezogen sein könnte. Dabei wird häufig die Vergesslichkeit selbst vergessen.«
    »Sie ist doch nach der Sommerpause wieder auf dem Damm, oder? Sie hat ja noch nicht einmal eine Beule am Kopf.«
    Die russische Ärztin zögerte einen Moment, auch ihr schien mit einem Mal bewusst zu werden, welche Folgen ihre Äußerungen haben konnten, zumindest was diese Patientenakte anging. Hier ging es um mehr als nur um die Frau, die gerade vor ihr lag. Sie wandte sich ihm langsam zu.
    Er bemerkte, wie jung sie eigentlich noch war, wenn man von ihrem streng hochgesteckten Haar einmal absah. Ihre ruhige, analytische Art hätte seiner Frau gefallen.
    »Es ist alles möglich. Sie kann sehr schnell wieder lichte Momente haben oder sich völlig normalisieren. Es kann aber auch Wochen, Monate, Jahre dauern. Aber das beeinträchtigt die Lebensqualität weit weniger, als man annehmen könnte.« Sie lächelte, und es sollte wohl aufmunternd aussehen. »Es ist vielmehr eine Frage der Gewöhnung, der Neudefinition dessen, was wir Normalität nennen.«
    Er versuchte, ruhig zu bleiben. »Nun, damit kennen wir uns schon ein wenig aus.«
    »Das sind gute Voraussetzungen.«
    »Was kann man sonst noch tun?«
    »Versuchen Sie, ständig beide Gehirnhälften zu trainieren, miteinander zu verknüpfen, Informationen mit intensiven Bildern und Gefühlen zu vernetzen. Für Fantasie, Gefühl und Kreativität ist die rechte Hirnhälfte verantwortlich. |39| Logik, Analyse und Abstraktion sitzen in der linken. Hatte Ihre Frau da eine Ausrichtung?«
    »Links, ganz links.«
    Sie legte ihre Hand kurz auf seine Schulter, bevor sie ging: »Warten Sie erst einmal ab, was passiert, wenn sie wieder aufwacht morgen früh. Neues Spiel, neues Glück, sagt man bei Ihnen, nicht wahr?« Und wahrscheinlich dachte sie an die linke Hirnausrichtung seiner Frau, als sie hinzufügte: »Die fluide, also erfahrungsunabhängige Intelligenz Ihrer Gattin liegt in einem hohen kognitiven Leistungsbereich. Die muss sie jetzt auf sich selbst beziehen, und früher oder später wird sie sich wieder erinnern. Sie muss es nur wollen.«
    Er ahnte Schlimmes, verließ zusammen mit der Ärztin das Krankenzimmer, um zu telefonieren und sich mit dem Büro seiner Frau verbinden zu lassen. Sie konnten mit ein wenig Vorlauf schon bald in der Klinik sein.
     
    »Mehr Wasser, bitte.«
    Sie kam zu sich. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und massierte sanft die rechte Hälfte.
    »Wo bin ich?«
    »In einem Krankenhaus in Moskau, meine Liebe. Du hattest einige Tage das Bewusstsein verloren. Weißt du noch? Ich habe dir doch gestern alles erzählt.«
    »Hat das mit dem demokratischen Aufbruch nicht geklappt?«
    Er atmete tief ein, versuchte, ihr gegenüber zu verbergen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
    »Du hast doch was? Und was tue ich um Himmels willen in Moskau?«
    »Oh, wir haben hier einen Termin mit ein paar Leuten. Sie müssten bald hier eintreffen. Bis dahin lese ich dir noch etwas vor.«
    |40| Er suchte das Buch, schaute unter das Bett. Aber Napoleon schien in die Hände baschkirischer Putzkräfte geraten zu sein.
    Er war schon zuversichtlicher gewesen.

|41| Trial and Error
    Zwei Tage später hatte man in der Hauptstadt immer noch nicht ganz verwunden, dass die Regierungschefin ihren Urlaubsstandort kurzerhand einige tausend Kilometer Richtung Osten verlegt hatte. Sicher, auch auf den Kanaren oder in Tirol hätte so einiges auf ihr Haupt niedergehen können, und man

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