Die Eisläuferin
wäre genauso wenig darauf vorbereitet gewesen. Aber hier lag eindeutig ein Fall von spontaner, eigenständiger und daher fahrlässiger Urlaubsplanung vor, die jede professionelle Büroleitung – und weiß Gott, die hatte sie – in eine ernsthafte Existenzkrise stürzen musste. Doch abgesehen von diesen äußeren Umständen des Unfalls konnte aus den Folgen, sofern man ihrem Gatten Glauben schenken durfte, eine veritable Regierungskrise erwachsen.
Die Büroleiterin hatte lediglich zwei Personen ins Vertrauen gezogen: den Regierungssprecher und den Minister für Außerordentliche Vorkommnisse. Letzterer hatte bis zu diesem Zeitpunkt ein wenig an Profil verloren, da die Definition dessen, was »außerordentliche Vorkommnisse« waren, im Zweifel im Ermessen anderer Leute lag. Das hinderte jedoch niemanden daran, hinter den Kulissen immer gern auf ihn zu zeigen, wenn wirklich etwas schiefging. Er war der Koordinator des Chaos, und es war ein undankbares Amt, ohne Zeit und ohne Leben darin. Da nutzte auch der Ministertitel nichts. Doch in diesem Falle lag die |42| Zuständigkeit nun wirklich glasklar bei ihm – wenn dieses Vorkommnis nicht außerordentlich war, was war es dann? Nein, dies war kein Brettspiel mehr, dies war ein veritables Drama. Das Leben hatte die Theorie endlich eingeholt.
Er war tief betroffen, als man ihm von der Angelegenheit berichtete, aber eben auch ordentlich begeistert. Die Chefin musste geahnt haben, dass so etwas einmal mit ihr passieren würde. Sie ging eben gern auf Nummer sicher. Denn jetzt war er für sie da. Wer auch sonst? Aus Zeitersparnis- und Geheimhaltungsgründen war er vorerst dazu übergegangen, sich kurz MAV zu nennen. Man handelte schnell: Es war Freitag, und mit etwas Glück, so hoffte man, fiel eine geschickt verdeckte Minigruppenreise nach Moskau inmitten der parlamentarischen Sommerpause und mithilfe des ohnehin diskreten Reise- und Sicherheitsapparats der Stallwache nicht weiter auf. Eine persönliche Inaugenscheinnahme der Patientin war unentbehrlich für die Beurteilung der Lage, fand man, außerdem war man zwar nicht in landläufigem Sinne, aber in gewisser Weise eben doch Teil der Familie, gehörte zu ihren engsten Regierungsangehörigen.
Der Name des Hotelzimmers in Moskau lautete La Manga und war somit international aussprechbar. Man hatte es nicht auf Wanzen hin untersuchen können, zumindest nicht auf technische, und entschloss sich daher, den Fernseher laut nebenher laufen zu lassen. Zu viert saßen sie um einen kleinen niedrigen Glastisch herum, dessen Ränder gegen die Kniescheiben drückten, und alles war so unbequem wie die Lage selbst in dieser morgendlichen Runde.
Er hatte seine Frau nur ungern in der Klinik allein gelassen. In ihrer derzeitigen Lage war sie doch recht unvoreingenommen und daher um einiges verwundbarer als sonst. Jeder hätte ihr alles erzählen können, und sie hätte es geglaubt, |43| zumindest den Wahrheitsgehalt des Gesagten in Erwägung gezogen. Immerhin hatte Herr Bodega, die treue Seele, inzwischen das russische Festland erreicht und saß wahrscheinlich gerade vor der Tür ihres Krankenzimmers.
Der Sicherheitsbeamte hatte sich offenbar große Vorwürfe gemacht und beim Anblick seiner schlafenden Chefin ganz feuchte Augen bekommen. Es schien, als hänge er sehr an ihr, denn berufsbedingt musste man dem Überwachungsobjekt wohl oder übel auch im Kopf und im Bauch ein wenig näher kommen. Ja, irgendwann hatte er sogar angefangen, ihr zum Geburtstag Dinge wie eine selbst eingepackte Tafel Schokolade oder das Forellenrezept seiner Mutter zu schenken, und je unaufgeregter diese Geschenke wurden, umso mehr Gedanken musste man sich um die Nähe oder vielmehr um die Distanz von zweihundert Metern machen – zumindest wenn man der Gatte des Objekts war. Und jetzt hatte Bodega Tränen in den Augen gehabt, Sicherheitsabstand hin oder her.
Etwas anders schien sich das bei der Kollegin und den Kollegen seiner Frau zu verhalten, mit denen er in diesem Hotelzimmer zu einer ersten Lagebesprechung verabredet war. Man gab sich kompetent und pragmatisch, wollte »die Sache« so professionell wie möglich abwickeln, und er wusste nicht, ob ihn das beruhigen oder entsetzen sollte. Sie trugen, obwohl es Wochenende war, Anzug und Hosenanzug, und das Gepäck stand noch ungeöffnet in einer Ecke des Zimmers. Der Fernseher flimmerte und dröhnte vor sich hin. Nein, hier sah absolut nichts nach einem Krankenbesuch aus, keine Blumen und sicher auch
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