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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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auf, noch bevor es jemand für sie tun konnte, und feuerte ihre Tasche auf die Rückbank, bevor sie vorne rechts zustieg.

|124| Der Tag der offenen Tür
    Der Park war um diese Uhrzeit noch menschenleer, die Luft rein. Es hatte in der Nacht geregnet, und die Temperaturen waren um diese Jahreszeit immer noch recht hoch. Es war ein wenig neblig. Als sie hinter dem Amt über die Brücke liefen, ging ein frischer Wind über den Flussarm, sodass sich kleine Wellen kräuselten, die ans Betonufer schwappten. Langsam kamen die Veranstaltungszelte in Sicht, alle edel in Weiß, Tische, Bänke und bunte Klappliegestühle waren bereits angeliefert worden.
    Er konnte mittlerweile gut mit ihm mithalten, was nicht selbstverständlich war, denn der Regierungssprecher war von feingliedriger Statur, sehr durchtrainiert, und die entgegenkommenden Joggerinnen lächelten nur ihn an. Diese Morgenrunde hielt eine Reihe von Adrenalinschüben bereit, die man im Tagesgeschäft nicht mehr bekam oder vielmehr vor Omsk nicht bekommen hatte. Andererseits war es auch die optimale Gelegenheit für vertrauliche Gespräche, denn die Worte lösten sich sofort in frischer Luft auf.
    Man war guter Dinge, die Chefin hatte sich mittlerweile ins Ablaufmanagement integriert und bereits einige Folgen von »Das war mein Tag« aufgenommen. Ausschnitte davon hatte man sogar den Öffentlich-Rechtlichen zugespielt, denn das umfangreiche morgendliche Programm, das die Darstellerin ja nun einmal zu absolvieren hatte, politisch |125| wie therapeutisch, ließ bei Weitem nicht mehr so viel Zeit für öffentliche Auftritte wie früher. Alle anderen offiziellen Reden hatten aufgrund ihrer Leseschwäche unauffällig und bis auf Weiteres abgesagt werden müssen, da nutzten auch keine Teleprompter, keine Spickzettel. Und das war auch gut so. Erstaunlicherweise schien diese Indisposition gar nicht aufzufallen, noch nicht einmal innerparteilich. Die Umfragewerte waren paradoxerweise sogar in die Höhe geschnellt, was fast schon wieder Anlass zur Skepsis gab, fand der MAV.   Denn mittlerweile schien es nicht mehr darum zu gehen, wie viel Amnesie dem Volk zuzumuten sei, sondern vielmehr darum, wie viel davon es tatsächlich wollte, wo doch die Begeisterung nicht abriss.
    Der MAV richtete das Gummiband hinter seiner Sportbrille. »Also, das ist vordergründig alles gut und schön, aber ich finde sie mittlerweile etwas, wie soll ich sagen, zu keck.«
    »Keck? Das ist keine politische Dimension. Radikal vielleicht?«
    Der MAV wehrte ab: »Nein, Gott behüte. Obwohl – in einer milden Form durchaus. Sie sagt, nun ja, was sie denkt, einfach so, völlig autonom, ohne Bezug auf irgendetwas außer auf sich selbst. Wo nimmt sie das bloß her?«
    »Nun, ich denke, sie schießt es aus der Hüfte.« Der Regierungssprecher grinste.
    »Das ist unpolitisch, das ist irgendwie, wie soll ich sagen, unkonservativ?«
    »Ein Ankuscheln an den öko-elitären Mainstream oder sozialdemokratisch vielleicht? Oder gar links?«
    »Ist nicht dasselbe, oder?«
    »Kommunistisch?«
    »Keine Ahnung.«
    Dem MAV wurde mulmig, und je schneller er lief, umso schneller kamen die Gedanken: »Das alles trifft es nicht |126| wirklich. Es ist schlimmer. Da müssen wir aufpassen. Ein paar konservative Reflexpunkte müssen wir schon treffen, und zugleich muss es irgendwie besser, moderner, emotionaler rüberkommen. Aber gleich so? Und der Geheimdienst arbeitet nach wie vor auf Hochtouren.«
    Der Regierungssprecher sprang über eine Pfütze, was ihm einen halben Meter Vorsprung verschaffte. »Die Mehrheit der Wähler ist nicht mehr konservativ und interessiert sich nicht für Etiketten. Die wollen geführt werden und ein gutes Gefühl haben, wenn sie ihr ins Gesicht gucken.«
    »Ach, manchmal wäre ich auch gern einfach nur Wähler.«
    »Was sagt denn der Therapeut?«
    Von irgendwoher war ein Hund gekommen, hielt mit ihnen mit, und der MAV wäre fast über ihn gestolpert. Das Tier wich ihm fortan nicht mehr von der Seite. Langsamer laufen half nicht, schneller auch nicht.
    »Na, der hat sich aber in dich verguckt, was?«
    Dem MAV war es peinlich. »Ach, soll er doch mitlaufen. Wo waren wir? Ach ja, der Therapeut. Ja nun, der fördert das alles auch noch. Eine intensive, emotionale Herangehensweise an jeden neuen Tag erweitert die Grenzen des Geistes und setzt Erinnerungsanker, sagt er. Er nennt es ›Broaden-and-Build-Theorie‹.«
    Der Regierungssprecher schien ins Grübeln zu kommen und verlangsamte das Tempo etwas:

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