Die Eisläuferin
errichtet hatte, bröckelte ein ganz klein wenig.
Sie ließ ihren Blick über das Gelände schweifen. Als sie zuletzt bewusst dort gestanden hatte, wo sie jetzt stand, war die Wiese vor dem alten Gebäude noch ein zugiger, braunrasiger Bolzplatz gewesen, und die in Stein gemeißelten Buchstaben hatten eine seltsame Mischung abgegeben aus Vermächtnis, Drohung und Durchhaltepropaganda – und einem kleinen bisschen Hoffnung, Dinge selbst in die Hand nehmen zu können. Tja, und das hatten sie getan. Doch es gab Orte, die nie ihre kalte Beklommenheit ablegten, dachte sie.
Schon um diese Zeit hatten sich die ersten Besucherschlangen gebildet, eine knallbunte Menschenmenge mit Wasserflaschen in den Rucksäcken und Stöpseln im Ohr, die sich wortlos von den Ordnungskräften in verschiedene Richtungen lenken ließ. Es herrschte ein fast schon babylonisches Sprachengewirr. Die Welt war nun endgültig angekommen in der Stadt. Und die Stadt offenbar wieder in der |130| Welt. Sie konnte sich kaum lösen von diesem Bild, aber der Verbrauchermarkt hatte bereits seit neun Uhr auf, und die Zeit lief ihr davon.
Ihr Gatte hatte in seiner Verzweiflung zuallererst Herrn Bodega angerufen. Weit konnte sie noch nicht gekommen sein, und man musste ja nicht gleich den ganzen Apparat in Alarmbereitschaft versetzen, wenn man seine Frau suchte. Auch nicht am Tag der offenen Tür im Regierungsviertel. Herr Bodega war stets Fels in der Brandung. Wenn er es war, der nach ihr suchte, würde es zudem nicht auffallen: Ein jüngerer Herr schaut sich nach einer Frau mittleren Alters um. Nicht mehr und nicht weniger.
»Bodega!« Er hatte seinen Namen schnell und mit einem kleinen Ausrufezeichen am Ende ausgesprochen, ahnte wohl schon, dass diese Mobilnummer im Display nichts Gutes verhieß.
»Sie ist weg.«
Pause am anderen Ende der Leitung. »Sie ist nicht weg. Sie wissen bloß nicht, wo sie ist. Das ist ein Unterschied. Das kriegen wir hin. Hat sie ein Taxi genommen?«
»Ich habe keine Ahnung. Mein Gott. Ich weiß gar nichts mehr. Ich bin schon wie sie.« Er war außer sich. Wie hatte ihm so etwas passieren können? Selbst jetzt durfte man sie immer noch nicht gänzlich unbeaufsichtigt lassen. Es war wie damals in Omsk, er hätte es eigentlich besser wissen müssen, hatte wieder zu lange geduscht. Dimitrij kam jetzt immer morgens direkt im Anschluss an die Podcast-Stunde, und dieses Mal war er vermutlich ein wenig früher gegangen, hatte sicherlich gegen die Badezimmertür geklopft. Er hatte es bei dem laufenden Wasser einfach nicht gehört. Jetzt war er frisch geduscht, aber ohne Frau.
Herr Bodega blieb grundsätzlich ruhig, auch wenn ihm |131| nicht danach war. Schon allein deswegen hatte er sich immer so gut mit ihr verstanden. »Denken Sie nach. Was könnte Ihre Frau aus dem Haus getrieben haben?«
»Sie sind lustig. Sie weiß seit etwa eineinhalb Stunden, dass sie Regierungschefin ist. Also, wenn das nicht zum Davonlaufen ist.«
»Ja, das ist es wohl.«
»Aber eigentlich ist sie gar nicht so, nicht so leichtsinnig, verstehen Sie?«
Sein Blick fiel auf die Garderobe. »Herrje, auch noch ohne Blazer!«
»Gut, sehr gut. Ohne Blazer wird sie kein Mensch erkennen.«
»Halt, die Einkaufstasche, die alte dunkelrote Einkaufstasche fehlt auch!«
»Shoppen?«
»Nein.« Er überlegte, und dann fiel es ihm ein: »Verbrauchermarkt! Es kommt nur einer infrage.«
»Das klingt nach Anscheingefahr.«
»Wie bitte?«
»Das, was Sie mir hier schildern, entspricht einer Sachlage, die bei einem objektiven Betrachter die Überzeugung erweckt, dass der Eintritt eines Schadens hinreichend wahrscheinlich ist, während bei nachträglicher Betrachtung eine solche Gefahr tatsächlich nicht bestand.«
»Wie Sie meinen, Herr Bodega.«
»Ich muss trotzdem im Amt Bescheid geben. Dazu bin ich leider verpflichtet.«
»Die machen dann daraus wieder die reinste Regierungskrise, als hätten wir die nicht schon längst. Aber tun Sie, was Sie tun müssen.« Er legte sein Handy wieder auf die Anrichte und gab die Pfirsiche ins kochende Wasser. Sie ließen sich anschließend bedeutend besser abhäuten.
|132| Es würde nicht einfach werden, die Straße mit dem Supermarkt zu finden. Und es würde ein langer Weg sein, doch das machte ihr nichts aus, laufen, einfach laufen, der Erinnerung entgegenlaufen, sich durchfragen. Also vorbei am herausgeputzten Tor, an den Linden, dann in die Häuserschluchten, vorbei an den Ministerien und an großen Warenhäusern,
Weitere Kostenlose Bücher