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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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die angeblich hießen wie Planeten. Sicher, sie war lange nicht mehr so durch die Stadt gelaufen. Es war auch wenig Zeit dafür übrig geblieben. Zwischen April und September 1990 waren im Rekordtempo einhundertvierundsechzig Gesetze in dreiundneunzig Sitzungen beraten und verabschiedet worden.
    Um diese Uhrzeit waren verhältnismäßig viele Menschen unterwegs. Und sie schienen alle ein Ziel zu haben, das dem ihren entgegengesetzt lag. Die, die ihr entgegenkamen, schauten entweder gar nicht erst auf oder stutzten nur kurz, bevor sie weitergingen. Sie kam wieder ins Grübeln, fragte sich, ob das mit dem Amt nicht doch eine ausgebuffte Finte war. Im Schuhschrank hatte erstaunlich solides Schuhwerk gestanden.
    Und dennoch, dieses Gefühl, das sie jetzt in sich ausmachte und das sie früher nie gekannt hatte, musste doch irgendwo herkommen, hatte Omsk wohl überlebt, so als Gefühl: Man konnte es am ehesten als eine unbestimmte Traurigkeit beschreiben, die sich über ihr Leben gelegt hatte. Ja, sie kam sich selbst und anderen geradezu unnahbar vor, wie wundgescheuert. Was war das? Einsamkeit? Oh, Gott. Es gab ja schließlich auch Bücher, an deren Inhalt man sich nicht mehr erinnerte, aber eben doch an das gute Gefühl, das sie einem beim Lesen gegeben hatten, einen Basis-Sound eben, der blieb. Ihr Basis-Sound dagegen war ihr unheimlich. Das war alles nicht normal, fand sie.
    Sie blieb an einer roten Fußgängerampel stehen und zupfte |133| ihr weißes T-Shirt zurecht. Es hatte einen halsfernen Rundausschnitt, aber das wir ihr jetzt auch egal.
     
    Der MAV hatte nicht geduscht, lediglich den Anzug über ein frisches Hemd gestreift und die blaue Krawatte bis zum Anschlag gebunden, man sah kaum mehr die roten Stellen am Hals: »Es geht nicht mehr, es reicht, so kann kein Organisationsstab dieser Welt funktionieren. Ich bin sie so leid.«
    Die Büroleiterin drückte den Lautsprecherknopf und gab in einem rhythmischen Fingerstakkato eine Nummer ein. »Wen sind Sie leid?«
    »Wen? Na, diese Überraschungen. Die hat’s früher nicht gegeben.«
    »Was wir hier haben, ist eine Ausnahmesituation. Nicht erst seit heute. Und manchmal bin ich mir gar nicht so sicher, ob wir tatsächlich die einzigen weltweit sind mit einem solchen Problem. So schlecht stehen wir gar nicht da. Für heute müssen wir eben einen Ersatz finden«
    Sie ließ sich verbinden, und er war sofort in der Leitung. Es war von Anfang an keine gute Idee gewesen, aber mit Abstand die praktischste und unauffälligste Lösung. Sie schilderte ihm kurz das Problem: Die Chefin habe kurzfristig zu einem geheimen Zweiergespräch ins Ausland reisen müssen. Man sei sich durchaus bewusst, dass dies ein ungewöhnlicher Vorschlag sei, aber das Volk stehe bereits am Eingang vor den Stahlgittertoren kurz vor den Detektoren. Der Stellvertreter und die anderen Minister seien am Tag der offenen Tür mit den Veranstaltungen in ihren eigenen Ministerien vollauf beschäftigt, und irgendwann am Nachmittag wäre es eben schön, wenn sich ein wahrhafter Volksvertreter oder doch zumindest ein bekanntes Gesicht als Gastgeber kurz unter die Menge mische.
    |134| Ob man ihm eventuell vorwerfen könne, er habe sich im Haus geirrt, wollte er wissen.
    Nein, versicherte sie ihm, dies sei ein reiner Publicity-Termin, nichts Ernstes, nichts Formelles, ein fröhlicher Anlass, ein Sommerfest, wie er selbst es ja auch gebe. Man sitze doch schließlich in einem Boot.
    Er willigte ein. Es blieb ihm wohl auch nichts anderes übrig.
     
    Je mehr sie sich dem Verbrauchermarkt näherte, um so vertrauter kam ihr die Umgebung vor, wie eine kleine Insel mitten in der Stadt, über die Fortschritt und Konsum etwas allzu wuschig hinweggegangen waren. Sie bog nach links ab. Und tatsächlich, nach etwa zwanzig Metern stand sie vor dem Geschäft.
    Es war fast so, als zucke ein Stückchen Erinnerung in ihrem Hinterkopf. Sie kannte diesen Supermarkt nicht, er musste erst Mitte der neunziger Jahre eröffnet worden sein. Sie strengte sich an, einen kleinen Fetzen ihrer Vergangenheit festzuhalten, ein Bild im Kopf abzurufen, starrte auf die Werbung im Schaufenster. Es gelang ihr nicht, aber sie war sich sicher: Ein Hauch von Erinnerung war dagewesen. Sie hätte vor Freude darüber am liebsten den nächstbesten Passanten umarmt, aber wenn man tatsächlich einmal Menschen brauchte, waren keine da.
    Sie kam ein wenig aus dem Schwung, zögerte, schritt erst einmal das Schaufenster in voller Länge ab. Denn es war eine ganz

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