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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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Volk, wenn ich Sie daran erinnern darf. Und ich würde das alles gern in einen etwas lösungsorientierteren Kontext bringen.« Sie atmete laut aus und sackte in sich zusammen, denn sie wusste, dass jeder ihr alles hätte erzählen können. Jeder hätte sie überallhin kneifen können. Ach. Er strahlte immer noch, und sie kam sich im Vergleich zu ihm schon ein wenig freudlos vor.
    »Nun, Ihr Machbarkeitsoptimismus ist, gelinde gesagt, eine einzige Katastrophe. Haben Sie schon einmal versucht, einfach mit dem Denken aufzuhören?«
    Das war nun doch zu viel. »Hören Sie, guter Mann, ich kann schon nicht mehr lesen und schreiben, muss mir Sorgen machen um meinen Platz in der Geschichte. Und Sie kommen mir mit solchen Vorschlägen? Ich muss schon sagen.«
    »Mögen Sie Pfirsiche?«
    »Das ist jetzt aber eine andere Frage als eben.«
    Doch noch bevor sie Einwände erheben konnte, hatte er ihr einen dicken, weichen, flaumigen Pfirsich vor die Nase gehalten.
    Er roch gut. Ferien auf dem Lande. Der alte Einmachkeller. Nachtisch. Bleikristallschälchen.
    »Reinbeißen.«
    »Raus.« Sie stand auf und hielt ihm die Tür auf. Er blieb sitzen.
    »Wollen Sie Ihre Erinnerungen wiederkriegen oder nicht? Wetten, ich schaffe es in Ihr Gedächtnis?«
    Das war ein Wort. Sie hielt die Klinke in der Hand, |116| zögerte, dachte an ihren Blazer. Was hatte ein verdammter Pfirsich mit ihrem Gedächtnis zu tun? Er würde tropfen, es würde unelegant aussehen.
    Ihr Mann stand plötzlich im Türrahmen: »Oh, hier riecht’s nach Pfirsichen. Kriege ich auch einen?«
    Sie schloss die Tür vor ihm, ging zum Tisch, nahm den Pfirsich und biss hinein. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder sprechen konnte.
    »Hinterlässt einen guten Geschmack, nicht wahr?«
    »Machen Sie das nie wieder mit mir.«
    Sie durfte gar nicht darüber nachdenken, auf was sie sich da eingelassen hatte. Sicher, dieser Mensch mit den blauen Augen war sicherheitsdienstlich durchleuchtet und für gut befunden worden, vom engsten Stab, von russischen Ärzten, von ihrem eigenen Mann. Doch konnte sie all denen vertrauen, ohne zu wissen, was eigentlich in den letzten Jahren geschehen war?
    »Wann sehen wir uns morgen?«
    »Da müssen Sie meinen Mann fragen. So schnell werden Sie den Weg in mein Gedächtnis wohl nicht finden. Ich treffe jeden Tag so viele Leute. Wo käme ich denn hin, wenn ich mich da an jeden erinnern wollte?«
    Sie spitzte die Lippen und betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Dieser Russe wandte unorthodoxe Methoden an, Pfirsiche, hatte von »emotionalen Momenten« gesprochen. Das klang verdächtig nach Glatteis. Sie kam sich plötzlich vor wie eingefroren, zögerte bei jedem Wimpernschlag, schaute auf die Uhr. Es war nicht mehr viel übrig vom Tag. Es half nichts. Sie strich ihre Hose glatt, erhob sich und sagte: »So, nun müssen wir aber zum Ende kommen, bevor jemand da oben das Licht ausknipst.«

|117| Die Sache mit der Leidenschaft
    Er hatte gehofft, einige wenige, unauffällige Konstanten herüberretten zu können in ihr Leben nach Omsk, Dinge, die emotionale Stabilität gaben, nichts Aufregendes, ein paar gute Diskussionen, gemeinsames Kochen und Zähneputzen, der morgendliche Blick in die Zeitungen. Er wollte wenigstens in den Momenten des Miteinanders so tun, als wäre nichts geschehen – nicht nur, weil ihm das sehr entgegenkam, sondern vielleicht auch, weil es seiner Frau, der Sache und somit ihrem Amt diente.
    Die früheren Jahre mit ihr kamen ihm plötzlich wie entzaubert vor. Waren denn die gemeinsamen Erinnerungen daran so viel weniger attraktiv, nur weil sie älteren Datums waren, weil sie ihr nicht fehlten und man ihnen nicht permanent hinterherlaufen musste? Eigentlich waren sie doch gerade deswegen besonders kostbar, fand er. Aber so funktionierte seine Frau nicht. Er kannte sie viel zu gut.
    Der Podcast war mittlerweile zeitlich etwas gerafft und psychologisch verfeinert worden, und es gab seit Kurzem einen virtuellen Rundgang durch das Amt, der ihr eine erste Orientierung erleichtern sollte. Man hatte außerdem in Erwägung gezogen, sie abends vor eine Handkamera zu stellen und gewissermaßen sich selbst erzählen zu lassen, was der Tag gebracht hatte. Mit einem Bild im Hintergrund, das Zuversicht und Dynamik ausstrahlte. Daran könne sie, so |118| mutmaßte der eingeweihte Kreis, am jeweils nächsten Tag zwar neu, aber eben doch mit einer gewissen aufbauenden Kontinuität anknüpfen. Der interne Arbeitstitel war bereits gefunden worden: »Das

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