Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
Vom Netzwerk:
»Hat was von Bachblüte. Wie verträgt sich denn das mit unserer Politik? Muss ich da mitmachen?«
    »Die Prognosen für ihre langsame Genesung sind gut, und sie scheint eine schier unglaubliche Lernfähigkeit zu haben. Kann man sich selbst gar nicht vorstellen. Auch die aktuellen Umfragewerte sprechen für sich, dabei haben wir noch nicht einmal ihr Outfit geändert. Und trotzdem, wir |127| müssen verdammt aufpassen. Auf den Bändern reden die beiden immer noch Russisch miteinander.«
    »Wie weit bist du mit deinem Unterricht im Sprachendienst?«
    »Geht so.«
    »Hm, Emotionen. Dann müssen wir die Kampagne eben anpassen, so im Sinne von ›Überzeugung aus Leidenschaft‹ statt ›Konsens aus Kalkül‹ oder so. Uns fehlt immer noch ein griffiger Slogan für ihre Amtszeit.«
    »Das kann auch nach hinten losgehen und alles noch schlimmer machen. Die hat doch keine Übung in Emotionen! Und das Kind ist ja sowieso schon in den Brunnen gefallen.«
    »Ich verstehe nicht.« Der Sprecher lächelte eine Dame an, die ihnen entgegenkam.
    »Es ist diese neue Vitalität, die mir Sorgen macht. Die hat nicht nur ihre Erinnerungen, sondern auch ihren Langmut verloren, knallt die Tage so voll mit Aufgaben und Beschlüssen, als würde sie das nächste Jahr nicht mehr erleben.«
    »Nun, jeder neue Tag ist für sie eben eine Kostbarkeit.«
    »Na, deswegen müssen wir den doch nicht gleich zur Wundertüte machen! Lange können wir nicht mehr dagegen anplanen.«
    »Stress, was?«
    »Kann ich dir sagen. Zuerst habe ich gedacht, die macht das alles in dem Irrglauben, die Welt verändern zu können, neunziger Jahre und so, und ich war mir sicher, das würde sich ändern mit dem Blick in die erste randlose Brille. Aber mitnichten. Die sagt jetzt nicht nur, dass sie Klartext reden und mutige Impulse setzen will, die macht das auch noch!«
    »Nun, das haben wir doch immer schon nach außen kommuniziert. Erinnere dich an die Steuersenkungen, die sie auf absehbare Zeit für nicht durchsetzbar hielt.«
    |128| Der MAV schlug sich sein Handtuch wie eine Peitsche um den Nacken: »Ach, Steuererhöhungen, Pipifax, die predigt öffentlich Blut, Schweiß und Tränen! Das kann ja durchaus seinen Charme haben. Aber das geht nicht. Das will keiner hören.«
    »Wirklich? Unterschätze nicht die Leute da draußen im Lande, durch das wir gerade laufen. Die sind nicht dumm. Im Zweiten Weltkrieg hat jemand in England mit solchen Sprüchen ganze Wahlen gewonnen. Es gibt Schlimmeres als die Wahrheit.« Der Regierungssprecher strich sich die Haare aus der Stirn, schien gar nicht ins Schwitzen zu kommen.
    »Churchill? Der hatte auch keinen Koalitionspartner.«
    »Nein, der hatte eine Allparteienregierung.«
    »Oh, Gott.« Der MAV machte einen Ausfallschritt zur Seite. Der Hund blieb, wo er war. Ganz nah bei ihm.
    Die beiden Herren trabten vorbei am Informationszelt, langsam kam der Garten mit dem Hubschrauberlandeplatz wieder in Sicht, dahinter versammelte sich bereits die Bigband für eine erste Probe. Sie liefen schneller. Ein Handy vibrierte. Der MAV ging ran, lief dabei dynamisch und doch kontrolliert weiter. Aber die Nachricht trieb die sportliche Röte mit einem Schlag aus den Gesichtern. Die Bigband spielte auf.
     
    Die luftige Glaskuppel auf dem wuchtigen Gebäude faszinierte sie, und alles spiegelte sich in der architektonischen Transparenz der neuen Abgeordnetenhäuser. Sie hatte es nicht glauben können, war zunächst Richtung Regierungsviertel gelaufen. Es war wie in dem Film, den ihr Mann ihr gerade vorgespielt hatte, die Welt war gläsern geworden.
    Sie überquerte die Straße, betrat den Rasen und ging |129| bedächtigen Schrittes auf das Ensemble zu. Es war bereits Anfang September, das Licht war sanfter geworden, aber die Sonne besaß an diesem Tag noch so viel Kraft, dass sie ihren Blazer kurzerhand zu Hause gelassen hatte. Ein Kind hüpfte durch ein Feld mit kleinen Wasserdüsen, aus denen in unregelmäßigen Abständen dünne Fontänen in die Luft gepumpt wurden. Noch hatte es keinen Spritzer abbekommen. Sie lief weiter.
    Wo waren bloß all die Jahre geblieben in ihrem Kopf? Sie konnte sich mittlerweile kurzzeitig an Dimitrij erinnern, nicht an seine Funktion, aber an ihn als Mensch. Das war wohl ein ungeheurer Fortschritt, und ihr Mann hatte ihr am Morgen versichert, dass sie dafür alles, wirklich alles, getan hätte. Letzteres fand sie fast schon wieder bedenklich, aber immerhin, die Mauer, die sich da um ihren Hippocampus herum

Weitere Kostenlose Bücher