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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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hat seit Omsk doch schon so tolle Umfragewerte eingefahren. Es wäre schade, wenn sich das jetzt ändern würde. Man wird wissen wollen, wer das war in ihrer Begleitung. Nicht schön, gar nicht schön. Denken Sie an die Regierung, an unser Land. Wir sind doch nicht Italien!«
     
    Sie war früh zu Bett gegangen an diesem Abend. Als er ins Zimmer schaute, schlief sie tatsächlich schon, wahrscheinlich aus reiner Erschöpfung. Er hätte gern gewusst, ob sie es jemals spürte, wie sich die Erinnerung langsam aus ihrem Körper schlich und sich etwas in ihrem Kopf wieder völlig neu aufstellte, ob sie den neurologischen Neustart, die totale Regeneration wahrnahm. Wahrscheinlich wollte sie genau das nicht bewusst miterleben, dachte er. Geschah es Punkt Mitternacht? Vielleicht war es auch über die Nacht verteilt oder ereignete sich erst in den frühen Morgenstunden? Eines stand fest: An Wahlkampfzeiten mit drei oder vier Stunden Schlaf in der Nacht war nicht zu denken, geschweige denn an Reisen in andere Zeitzonen. Herrje.
    Er kam näher, betrachtete sie im Schlaf etwas genauer als sonst. Nein, dies war seine Frau, äußerlich unversehrt und im Originalzustand. Sie war ihm gänzlich vertraut, es war alles in Ordnung an ihr, es gab nichts Fremdes, das gestört hätte – wenn sich das auch ändern würde, so bald sie am nächsten Tag den Mund auftat. Aber auch dieses Problem mochten andere Ehemänner ebenso haben.
    Sein Blick fiel auf ihren Nachttisch. Sie hatte den Pfirsich gegessen, der kleine Teller stand noch da und würde dort |189| auch bis zum Morgen bleiben. Davor, noch näher am Bett, entdeckte er sie dann: Jäger im Schnee, made in Taiwan. Er nahm sie in die Hand, kippte sie und ließ es schneien, schüttelte sie hin und her, immer heftiger, Schnee, alles voll Schnee, bis sich Schaumbläschen am Himmel bildeten und das Plexiglas matt wurde. Scheißteil. Er hatte sie ihr tatsächlich geschenkt, diese Kugel. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, sich so etwas zu kaufen, dachte er. Und dann hatte sie sie auch noch auf ihren Nachttisch gestellt. Es gab schließlich weniger intime Orte – selbst wenn es sich bei diesem Ding um eine Art Erinnerungsgenerator handelte, um mehr also als einen simplen, flachen Erinnerungszettel, den man an den Kühlschrank klebte. Schneestürme am Bett eben. Doch, und das machte die Sache delikat, diese konservierten Erinnerungen stammten eben auch von einem anderen Mann. Er hielt die Kugel noch immer in der Hand. Den Pfirsich brachte sie mittlerweile, spätestens seit der gelungenen Flambierung, eher mit ihm in Verbindung, aber diese Kugel machte nichts von dem aus, was ihn ausmachte. So wie es aussah, würde Dimitrij sowieso nicht wieder kommen dürfen. Er bewegte sich mit der Kugel in der Hand Richtung Tür. Die Versuchung war groß.
     
    Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug und sich aufsetzte, war alles noch komplett abrufbar. Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen und blickte versonnen zur Decke, denn dieses Mal hatte sich ein merkwürdiger, eigentlich recht unpolitischer Traum ins Bewusstsein hinübergerettet: Eiskunstläuferin, sie war eine Eiskunstläuferin gewesen, verrückt eigentlich, hatte ein langes hellblaues Kleid getragen, oben geschickt diagonal gerafft, weit fließend nach unten ausgestellt, es hatte wunderbar geflattert. Mit ihr war ein Mann in stahlblauem Anzug auf dem Eis gewesen, |190| mit an den Schlittschuhen festgeklemmten Hosenbeinen, sehr elegant. Er hatte nach ihrer Hand gegriffen, sie zu sich herübergezogen, sie war ihm nah gekommen, aber nur ganz kurz. Dann hatte er sie mit einem kräftigen Schubs wieder von sich geworfen. Seltsamerweise hatte sie einen Motorradhelm getragen, was ein wenig unpassend gewesen war, aber durch den Sichtschlitz hatte sie ihn erkannt: Es war Dimitrij gewesen. Sie hatte ins Publikum geschaut, dort hatten Punktrichter gesessen, nichts als Punktrichter, Hunderte, Tausende, Millionen, mit kleinen Schildchen, und in jeder fünftausendsten Reihe hatte es eine kleine Wahlurne gegeben. Irgendwann danach war ihr Mann plötzlich auf dem Eis zu ihnen herübergeglitten, in Schwarz, entschlossen, stilvoll, etwas kantig – es würde Abzüge in der B-Note geben   –, aber durchaus beeindruckend.
    »Liebes, du musst aufstehen, schau mal her.« Ihr Mann war ins Zimmer gekommen und stand jetzt mit aufgeklapptem Notebook an ihrem Bett. Sie sah ihn, wusste nicht, welcher Tag war, aber dieser Mann da vor ihr sah noch immer aus wie in

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