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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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ihrem Traum. Es rettete ihren Tag und seinen auch, und es hätte den Tag eines jeden Mannes gerettet, als sie sagte: »Ah, du siehst aus wie in meinem Traum.«
     
    Er war begeistert. Ja, er musste in ihrem Traum tatsächlich alt ausgesehen haben, zumindest älter als vor zwanzig Jahren. Das wiederum bedeutete, dass sich die Erinnerung langsam in ihr vorzukämpfen schien. Er konnte ihre Antwort kaum erwarten, als er fragte: »Was war gestern, Liebes? An was erinnerst du dich?«
    Sie blickte ihn an, als hätte er und nicht sie das Gedächtnis verloren. Die Schneekugel auf dem Nachttisch kam in ihr Blickfeld, und dann tauchten plötzlich die Bilder auf in ihrem Kopf, danach die Erinnerung. Es brach aus ihr |191| heraus: »Um Himmels willen, ich war tatsächlich Schlittschuhlaufen! Und zwar mit, warte mal«, sie legte den Finger an die Lippen, »mit Dimitrij! Diesem Russen! Woher kenne ich den? Und warum habe ich so was getan, dann auch noch mitten in der Woche? Das kann nicht sein.«
    Er legte seine Hand an ihren Oberarm: »Das ist sensationell, es war alles genau so, und an mehr musst du dich vorerst nicht erinnern.« Er stutzte und sah sie genau an: »Oder war da noch etwas?«
    Nein, nichts mehr, beteuerte sie, völlig verwirrt, unsicher, was den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit betraf.
    Gedanklich befand sie sich in der Gegenwart, doch immerhin war sie schon ein bisschen in der Vergangenheit verhaftet. Wie schön, fand er. Früher war das eher umgekehrt gewesen. Vor allem aber schien keine Gefahr zu bestehen für das geplante Durchlaufen der Eskalationsstufe 3.

|192| Das bin ich nicht
    Sie wurde früh abgeholt an diesem Morgen, ohne dass sie auch nur einen Blick auf die Bilder in den Tageszeitungen hatte werfen können. Doch immerhin hatte sie unter den Memory-CDs, die für diesen Tag vorgesehen waren, auch ihre Videoaufnahme vom Vorabend gesehen und sich in ihr wiedererkannt. Sie glitt ins Amt.
    Ruhe hatte sie wirklich nur während der Autofahrten. Es dauerte etwa acht Minuten bis zum Ziel, acht Minuten, um sich zu der Person zu machen, von der man sagte, dass sie sie sei. In der Tiefgarage knallten mit ihr noch vier Sicherheitsbeamte die Autorentüren zu, eine nahezu unheimliche Choreographie. Sie blickte sich erstaunt zu ihnen um, sah nicht das große Mikrophon mit den drei Buchstaben darauf, das ihr plötzlich von der Seite an den Mund gehalten wurde, noch bevor die Sicherheitsleute an ihrer Autotür waren. Es waren Bruchteile von Sekunden, sie rechnete mit allem, mit einem feuchten Tuch, getränkt mit Chloroform, Würgegriff, Schusswaffe an der Stirn, Messer an der Kehle. »Kommen Sie nicht näher!«
    Es kam dann doch nur eine Frage: »Was sagen Sie zur roten Ampel?«
     
    Die Sicherheitsbeamten hatten den Frager überwältigt und zurückgedrängt, noch bevor er Luft holen konnte. Sie stand |193| allein da. Wovon sprach der? Rote Ampel? Sie überlegte. Nun. So weit, so gut. Wie war das noch einmal mit den anderen Parteien? Konnte es sein, dass man hinter ihrem Rücken, womöglich unter Ausnutzung ihrer Amnesie, eine Ampel-Koalition plante, Gelb mit Rot und Grün statt mit Schwarz? Denn grün war doch auch irgendwie rot. Wie wahrscheinlich war das? Nicht sehr, musste sie zugeben. Wer wollte schon mit denen? Und dennoch, so etwas wurde ja gern schon einmal vor dem Wahlkampf ausgehandelt.
    Vielleicht war die rote Ampel auch nichts weiter als das Hirngespinst eines Einzelnen, wirres Geschwätz, eine zufällige Verkettung von Missverständnissen, alles Zufall, dachte sie. Aber waren Zufälle nicht immer unwahrscheinlich und ereigneten sich trotzdem, ließen Bahnhofsschilder auf Regierungsoberhäupter niedergehen? Sie donnerte dem Mann mit dem Mikrophon ein verdächtig ehrliches »Ich weiß nicht, wovon Sie reden« hinterher, als er aus der Garage geführt wurde. Man sollte später nicht behaupten können, dass sie zu dieser Frage gänzlich geschwiegen hätte. Scheißspiel. Während sich die Aufzugtüren hinter ihm schlossen, hörte sie ihn noch rufen: »Wollen Sie jetzt auch zurücktreten?«
    Einer der Sicherheitsbeamten kam auf sie zu und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie wandte sich ab. Nichts war in Ordnung, was wusste der schon. Sie ärgerte sich über sich selbst, wie konnte man nur so anfällig sein, sie versuchte, sich zu konzentrieren, blickte gegen die Wand, in die Ecke der Garage, alles sauber ausgefegt, kein einziges Stückchen Müll, nichts, an dem das Auge hängen bleiben konnte. Was und

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