Die Eisläuferin
vorgeführt vor, doch es half nichts. Er blickte auf das vor ihm liegende Papier und las:
»
Es ist schön, dass man sich so um mich sorgt. Dazu sage ich nur eines ganz klar: Ich halte die Förderung des Breitensports für eine nicht zu vernachlässigende Maßnahme, um unsere Jugend fit für die Zukunft zu machen. Sie muss Sprünge wagen. Das habe ich jetzt einfach mal an Ort und Stelle vorgemacht, statt nur darüber zu reden. Und ich muss Ihnen sagen, es hat mir sehr viel Spaß bereitet. Es sind schöne Fotos dabei herausgekommen. Aber fahre ich deswegen gleich mit dem Motorrad über rote Ampeln? Für so etwas habe ich ein Auto mit Chauffeur. Und das ist doch auch schön.«
Er war sich sicher, den Tonfall der Chefin getroffen zu haben, und schaute zufrieden in die Runde. Der Büroleiterin entfuhr ein »Tätä Täta«. Doch er blieb ernst: »Nun, das lenkt doch ein wenig in die richtige Richtung, nicht wahr? Ich werde für alle Fälle auch noch Kontakt mit der Stiftung Deutsche Sporthilfe aufnehmen.«
|197| »Wollen wir das auch gleich notieren und in die Wege leiten?« Der MAV war ein Mann der Tat und blickte delegierend zur Büroleiterin, die keine Miene verzog, als sie sich im Sessel zurücklehnte.
Die Regierungschefin dagegen saß auf der äußeren Kante ihres Stuhls, zum Absprung bereit. Sie verstand kein einziges Wort, wäre am liebsten einfach davongerannt, ab durch die Mitte und weg. Auf welchem Planeten war sie hier gelandet? Gab es noch andere Lebensformen? Es kam ihr so vor, als bewegten sich die Wände langsam auf sie zu, selbst hier, wo sie aus den Fenstern direkt in den Himmel gucken konnte. Sie überlegte, musste schnell handeln, und es fiel ihr eine Chance ein, die ihr tatsächlich noch blieb: das Wort. Das gedruckte Wort, auch wenn sie es nicht würde lesen können. »Zeitungen, ich möchte sofort die Zeitungen von heute sehen.«
Wenig später glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Es war das reinste Trauma: Bilder, nichts als Bilder von ihr auf dem Eis. Sie erkannte Motive wieder, an denen ihr Herz hing, die sie erst vor ein paar Stunden für sich entdeckt hatte, die die Barrieren in ihrem Kopf überwunden hatten und deswegen extrem kostbar für sie waren. Momente, an denen ihre Genesung hing, Momente der Freude und Erleichterung, durchaus intim, waren jetzt messerscharf auf allen Titelblättern zu sehen, es war das reinste Tschingderassabum. Und darunter eine ganze Fotoserie von ihr, an ein Motorrad gelehnt, den Helm noch in der Hand.
Alle Worte, gesagt oder gedruckt, waren nichts im Vergleich zu diesen Bildern. Sie hielt inne, ging einen Schritt zurück – und im selben Augenblick, am helllichten Tage, sickerten nach und nach Erinnerungen durch. Es war wie ein riesiger, innerer Scheinwerfer: die Heimfahrt auf dem |198| Sozius, Dimitrij, die rote Ampel, Punkte in Flensburg. Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf die Fotos, klopfte sie zurück ins Leben: »Ach, Gott, diese Ampel! Wer kommt denn auf so etwas! Ja, sicher, das war auf der Heimfahrt. Dumme Sache das. Das bin ich, ganz klar! Wie schön!«
Doch statt sich mit ihr zu freuen über diese wiedergewonnene Erinnerung und über die Verhältnismäßigkeit roter Ampeln, stand ihr Team in angemessenem Abstand verstört neben ihr.
»Das sind Sie nicht.«
Der MAV schien zu ignorieren, dass es hier nicht um läppische rote Ampeln ging, sondern um die Wiedererlangung ihrer Gesundheit und somit um die volle Funktionsfähigkeit der Regierung. Er sah sie an, als kenne er sie gar nicht.
Und er ließ sich nicht erweichen: »Das sind Sie nicht.«
»Wer bin ich nicht?«
»Na die, die man hier zu sehen glaubt!« Er sah ihr in die Augen, trat dann vor an den Tisch und klopfte ebenfalls auf die Bilder.
»Wollen Sie etwa nicht, dass ich mich erinnere?«
»Ich bitte Sie, selbstverständlich, aber doch nicht an so etwas!«
Der Regierungssprecher ging dazwischen: »Unterschätzen Sie das Erregungspotential der Medien nicht! Es ist doch sowieso schon zu spät. Die wissen nichts von Ihrer, nun ja, Ihrer Krankheit. Für die ist das ein Verkehrsdelikt in Begleitung eines unbekannten Mannes. Das ist die Kernbotschaft, der Rest wird rausgeschnitten, da können Sie noch so viel erklären. Leugnen ist unsere einzige Chance!«
»Aber das bin ich doch! Das ist meine Erinnerung, verdammt noch mal! Die lasse ich mir nicht nehmen.« Sie fand, es klang kindisch, aber sie konnte sich nicht von den Bildern |199| trennen. »Schauen Sie mal, die Hose, das ist
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