Die Eismumie
Die andere Hand wölbt er schützend um die Öffnung des Beutels, damit der Sturm nicht den Inhalt wegbläst. Im Dämmerlicht und durch die Tränen, die ihm der Wind in die Augen treibt, kann er die Talismane kaum erkennen: eine Pfeilspitze aus Onyx, ein Reißzahn von einem Säbelzahntiger, eine Muschel, eine Kupferkugel, ein Büschel Gras, ein Eidechsenfuß, ein gewundenes Stück Birkenrinde und ein Feuersteindolch mit einem Griff aus Eschenholz.
Plötzlich vernimmt er hinter sich das Knirschen von Stiefeln im tiefen Schnee. Er greift instinktiv nach seinem Dolch.
Er dreht sich langsam um, sieht den Berghang hinab und entdeckt sieben Gestalten, die sich mühsam dem Sturm entgegenstemmen. Ihre zerfledderten Lumpen flattern im frostigen Wind um ihre ausgemergelten Glieder. Auf den Kleidern ist das Blut zu tintenschwarzen Flecken geronnen. Ihre Gesichter erscheinen im Dämmerlicht wie Totenmasken. Mit teilnahmslosen und leeren Blicken starren sie den Schamanen an.
Die Frau aus dem Maisfeld – das erste Opfer des Sun-City-Mörders – trägt das blutdurchtränkte Schürzenkleid, in dem man sie gefunden hat. Der Müllmann aus Colorado, Opfer Nummer sieben, steht an ihrer Seite. Er ist nicht mehr als fünf Meter von dem Schamanen entfernt und hält sein braunes Gesicht seltsam schief wie ein Hund, der auf ein Kommando wartet. Die anderen Opfer sind ebenfalls da. Alle haben sie dieselbe schartige, klaffende Wunde im Nacken, aus der das Blut auf ihre Schultern gesickert ist.
Der Müllmann öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch er bringt kein Wort heraus; nur ein schwaches Wimmern – wie das einer sterbenden Katze – dringt aus seiner Kehle. Sein Mund bewegt sich unkoordiniert und schnell, die unartikulierten Laute kommen aus ihm heraus wie asynchrone Bilder und Töne aus einem defekten Filmprojektor.
«-WAS-?!»
Im dunklen Motelzimmer riss Grove die Augen auf. Er lag auf dem Bauch, das schweißnasse Gesicht in das Kissen gepresst; zu seinen Füßen türmte sich die zerwühlte Bettdecke. Das erste Tageslicht stahl sich unter den Jalousien hindurch. Grove konnte sich nicht bewegen. Noch immer hörte er den scharfen Wind und das grässliche Heulen. Sein Puls raste.
Regungslos wartete er darauf, dass die Realität den Albtraum vertrieb.
Nach einer Weile setzte er sich auf. Er trug lediglich seine Unterwäsche, und die kühle Luft in dem Zimmer jagte sofort eine Gänsehaut über seinen Körper. Seine Zähne schmerzten, es pochte in den Schläfen und feine Nadelstiche signalisierten ihm, dass seine Füße eingeschlafen waren. Er sah hinüber zum digitalen Radiowecker, der auf dem Nachttisch stand.
Viertel nach sechs.
Er stieß einen langen Seufzer aus. Es kam ihm vor, als habe er tagelang geschlafen und geträumt, obwohl es tatsächlich nur ein paar Stunden her war, dass er aus der Black Bear Lounge zurück in sein Motelzimmer gewankt war. Er stand auf und zog sich an. Es war Zeit, Tom Geisel anzurufen und ihm alles zu berichten. Doch bevor er den Telefonhörer aufnahm, fiel ihm ein, dass er Geisel erst später erreichen konnte.
Ein Faltblatt auf dem Fernseher versprach den Gästen ein köstliches Frühstück in der Lobby, jeden Morgen von sechs bis zehn Uhr.
Grove fuhr mit dem Aufzug hinunter und fand ein mageres Buffet vor: ein paar kleine Cornflakes-Packungen, eine große Plastikschüssel mit Butterstücken auf Eis, Milch und Orangensaft sowie eine Edelstahlkanne mit Kaffee, angeblich Seattle’s Best. Grove füllte einen Styroporbecher mit der schwarzen Flüssigkeit und setzte sich allein an einen runden Tisch. Er las die Morgenausgabe von USA TODAY, während auf einem Fernseher an der Wand ununterbrochen CNN lief.
Gegen neun Uhr ging Grove auf sein Zimmer zurück und wählte Geisels Privatnummer in Fredericksburg.
«Und wie läuft das Mumiengeschäft?», flachste Geisel.
«Eigentlich ganz gut», antwortete Grove. «Besser, als ich gedacht hätte.»
«Ausgezeichnet.»
«Tom?»
«Ja?»
Eine lange Pause. «Sitzen Sie bequem?»
Teil 2
Der Zugang
«Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden,
als eure Schulweisheit sich träumen lässt.»
S HAKESPEARE , Hamlet
Kapitel 4
Die dunkle Seife des Mondes
Das harmlos wirkende hohe Gebäude stand an einer ruhigen Straßenecke der verschlafenen Vorstadtgemeinde Reston, Virginia. Die Einwohner nannten diese Ansammlung von verspiegeltem Glas und massiven Eisenträgern, die weit in den hellblauen
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