Die Eismumie
lange ausgestorben –, die doppelt so groß war, drei Meter Flügelspannweite besaß und Augen wie schwarze Perlen hatte. Dieser neolithische Wanderfalke verfügte über eine Fähigkeit, die sich für den Angriff nutzen ließ: Er konnte sich tarnen, indem er seinen Rumpf zusammenzog, bis er kleiner und schwächer wirkte, ja, vielleicht sogar verletzt. In dieser Mimikri verleitete er die potenzielle Beute dazu, ihn zu verfolgen, um dann gnadenlos die Situation umzukehren und seinem Verfolger aus dem Hinterhalt aufzulauern. Der Jäger wurde zum Gejagten, und der Falke erlegte sein Beute mit größter Leichtigkeit. Das Ding in Richard Ackerman war in vielerlei Hinsicht genau wie dieser Peregrin. Mit einer Ausnahme.
Es hatte nur einen natürlichen Feind.
Der neue Richard schaute durch Ackermans Augen auf die armselige Motellobby – ließ den Blick schweifen, überlegte, grübelte, stellte sich all die Menschen vor, die nach ihm suchten. Er fragte sich, wie er den Dunkelhäutigen, den Wichtigen, den Einzigen, auf den es jetzt ankam, in so eine Verfolgungsjagd locken könnte. Ulysses Grove. Der Name war bittere Asche im Mund des Marionettenspielers. Aber er wirkte auch als Beschwörungsformel. «Ulysses Grove» war der Zugang. Aber wie vieler Opfer würde es bedürfen? Über welche wirkungsvollen Möglichkeiten verfügte der neue Richard, um den Jäger ins Kampfgetümmel zu locken? Es müsste etwas sein, das weit über einen einzelnen Mord hinausging. Etwas Grandioseres als zwei tote Kretins in einer muffigen Motellobby.
Das Ding in Ackerman ließ den Kopf ruckartig wie ein Greifvogel oder ein Insekt auf dem Hals fast rotieren und sah sich zum tausendsten Mal im Raum um, nach einer Idee, einem Weg, den Jäger zur Jagd zu verlocken.
Die Lichtstrahlen eines stahlgrau bewölkten Morgens in Oregon fielen über das schäbige Mobiliar, brachen sich in schwebenden Staubkörnchen und malten Streifen auf die gegenüberliegende Wand. Die dunstige Morgendämmerung hatte die Schatten der Dunkelheit noch nicht ganz vertrieben und erhellte die blutverschmierte Lobby nur schwach. Inzwischen konnte man mehr erkennen: die zerlesenen Zeitschriften, die auf dem Couchtisch lagen, den spindeldürren Gummibaum in einer Ecke, das verblichene Seestück, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Sein Blick huschte von Gegenstand zu Gegenstand. Er sah auch auf den flackernden Fernseher, in dem jetzt irgendein stumpfsinniges Programm über Gewichtsabnahme lief, und er blickte auf den vergilbten Lampenschirm. Schließlich fiel ihm das in schwarzes Leder gebundene Register ins Auge, das auf dem Tresen vor ihm lag.
Es hatte die ganze Zeit vor ihm gelegen.
Das Gästeverzeichnis.
Zuckende Finger öffneten das ramponierte Verzeichnis, und der alte Klebstoff am Buchrücken knackte leise. Eine blutige Fingerspitze fuhr langsam die Spalte mit Namen hinunter, die links auf die Seite gekritzelt waren. Handgeschrieben im Stil der alten Rasthäuser, war das Register eine wahre Fundgrube an einsamen Menschen auf der Durchreise – von denen viele in diesem Augenblick in den heruntergekommenen Zimmern schlummerten.
… alle in tiefem Schlaf, versunken in ihre banalen Träume, warteten sie darauf, geopfert zu werden.
Kapitel 12
Geheimnis um Geheimnis
In Father Carrigans Augen flackerte der Zorn, die Teetasse zitterte in seiner von Schüttellähmung befallenen Hand, und ihr Inhalt schwappte über den Rand. «Überzeugen Sie sich in der Bibliothek des Vatikans, wenn Sie mir nicht glauben. Dort finden Sie alles», sagte er. Er musste seine schwache Stimme anstrengen, um sich im zunehmenden Lärm des Coffee-Shops Gehör zu verschaffen. «Ihre vermeintlich kostbaren Entdeckungen haben Kräfte geschürt, die am besten ungestört geblieben wären, und es geschieht nur aus Hybrisy reiner Hybris, dass diese armen Seelen immer wieder ausgegraben werden.» Der Padre pausierte einen Moment, als sei er allein schon durch seine aufwallenden Emotionen erschöpft. Dann blickte er die renommierten Professoren am Tisch an. «Sagen Sie mir doch, Professor De Lourde… warum sind Sie trotz der geringen Vergütung den ganzen Weg hierher gekommen? Warum reisen all diese angesehenen Archäologen Hals über Kopf um die halbe Welt, um an einem so obskuren Treffen teilzunehmen?»
Professor Moses de Lourde wollte gerade von einem kleinen Toastdreieck abbeißen, hielt aber inne, den Toast vorm Mund, und ein schwaches ironisches Schmunzeln huschte über sein feines
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