Die Eismumie
Zuschauermenge.
Zahllose anonyme Gesichter, viele gezeichnet von lebenslanger Arbeit, von Alkohol, Zigaretten und Kummer, waren wie zwanghaft auf das Geschehen gerichtet. Die Zuschauer ließen ihre Blicke schweifen wie bei einem Sportereignis, das in Zeitlupe ablief. Grove hatte bereits in der Vergangenheit das Verhalten von Schaulustigen studiert und vor Jahren auf der Akademie eine Arbeit darüber geschrieben. Er hatte verschiedene Theorien entwickelt. Eine davon bezeichnete er als die Theorie «ansteckender Aufmerksamkeit», und die sagte aus, dass es nur eines minimalen Interesses bedurfte, um eine Menschenmenge an einem Schauplatz zu versammeln und festzuhalten. Mit anderen Worten: Wenn nur ein Mensch an etwas Interesse zu haben schien, versammelten sich schnell hundert weitere Menschen wie die Schafe und warteten darauf, dass etwas passierte. Aufmerksamkeit pflanzte sich durch Osmose fort.
Eine andere Theorie, die Grove entwickelt hatte, wurde – zumindest in seiner Abschlussarbeit – bekannt als «Interesse-Frequenz-Reaktionsquotient», was nichts anderes bedeutete, als dass eine Zuschauermenge nur eine minimale Frequenz von Aktionen brauchte, um an Ort und Stelle zu verbleiben, um sich zusammenzuschließen und nicht aufzulösen. Im Fall des Schauplatzes Regal Motel wurde der benötigte Anreiz geliefert, wenn Gerichtsmediziner in ihren weißen Schutzanzügen aus den Motelzimmern kamen und Leichen mitbrachten. Ähnlich den Versuchsratten in einem morbiden Pawlow’schen Experiment begann sich die Menge ungefähr jede halbe Stunde zu zerstreuen, wobei diese Dynamik ganz sicher durch den wolkenbruchartigen Regen verstärkt wurde. Aber dann wurde eine weitere Leiche aus dem Dunkel eines blutbesudelten Zimmers hinausgetragen, und schon war die Menge wieder zur Stelle. Ungefähr jede Dreiviertelstunde wurde ein neues Opfer aus dem Motel gebracht, und wie sich herausstellte, war das häufig genug, um die Neugierigen trotz des unfreundlichen Wetters am Ort des Geschehens Wurzeln schlagen zu lassen.
Grove nahm Augenkontakt mit Zorn auf und nickte leicht. Dann griff er unter dem Regenmantel in die innere Brusttasche seines Jacketts. Er hatte zwei Fahndungsblätter mitgenommen, die er sich im Hotel Nikko ausgedruckt hatte. Die briefpapiergroßen Blätter, die einmal gefaltet waren, zeigten in der oberen rechten Ecke ein aktuelles Foto von Ackerman. Grove zog sie hervor, faltete eins von ihnen auf und betrachtete es. Regentropfen prasselten auf das Foto, das ohnehin nur in der unscharfen und zu dunklen Qualität einer Kopie der zweiten Generation wiedergegeben war: ein ergrauender Mann mit ausgemergeltem Gesicht, müden Augen und wachsbleicher Haut. Auf dem Foto – das dem FBI von Ackermans Schwester und nicht von seiner Frau zur Verfügung gestellt worden war – trug er, wie für ein offizielles Porträt angemessen, Anzug und Krawatte und posierte vor einem Standardhintergrund aus Satin. Er lächelte zwar, aber es war ein emotionsloses Passfotolächeln.
Trotz der extremen Qualitätsverschlechterung durch vielfaches Kopieren und Faxen war zu erkennen, dass in Ackermans Augen etwas Todbringendes lauerte.
Zorn bahnte sich den Weg zu Grove. Langsam, aber stetig bewegte er sich an dem flatternden gelben Absperrband entlang, blieb alle Augenblicke stehen und warf einen unauffälligen Blick über die Schulter auf die Menge. Dabei registrierte der Texaner Veränderungen, prägte sich Gesichter ein und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Erdboden zu, als untersuche er Fußabdrücke.
Grove ging zu ihm hinüber und händigte ihm eines der durchnässten Fahndungsblätter aus. Zorn nahm es mit einem Kopfnicken entgegen, verschwendete aber keinen Blick darauf. «Ich glaube», flüsterte er, den Blick zu Boden gerichtet, «wenn er wirklich hier ist, steht er auf der anderen Straßenseite oder schleicht irgendwo im Hintergrund umher.»
«Vielleicht, vielleicht aber auch nicht», entgegnete Grove und kehrte der Menge den Rücken zu. «Vergessen Sie nicht, es geht um die Show, er inszeniert diese Show uns zu Gefallen.»
Zorn tat so, als gelte seine ganze Aufmerksamkeit dem Erdboden. Der Regen rann vom Rand seines Schirms. «Es gilt doch, die Bedürfnisse des Egos und die Gefahr, erwischt zu werden, gegeneinander abzuwägen.»
«Das ist Teil dessen, was seine Phantasie beflügelt, das macht den Reiz aus und deswegen geht er das Risiko ein.»
«Wollen Sie die Logenplätze nehmen? Ich kümmere mich um die
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