Die Eisprinzessin schläft
alle gewußt hätten, was passiert war? Wir haben ihr die Chance gegeben, ihr Leben weiterzuleben.«
Sie sahen sich über den Tisch hinweg an, und Karl-Erik wußte, daß sich bestimmte Dinge nie reparieren ließen. Sie würde es nie verstehen.
»Und das Kind? Was ist mit dem geschehen? Wurde es zur Adoption freigegeben?«
Schweigen. Dann erklang eine Stimme von der Tür her.
»Nein, das Kind wurde nicht weggegeben. Sie beschlossen, es zu behalten und das Mädchen darin zu belügen, wer es ist.«
»Julia! Ich dachte, du bist oben in deinem Zimmer!«
Karl-Erik drehte sich um und sah Julia in der Tür stehen. Sie mußte auf Zehenspitzen die Treppe hinuntergeschlichen sein, denn niemand hatte sie kommen hören. Er fragte sich, wie lange sie dort wohl schon gestanden hatte.
Sie lehnte am Türrahmen, die Arme verschränkt. Ihr ganzer unförmiger Körper signalisierte Trotz. Obwohl es schon vier Uhr nachmittags war, hatte sie noch immer den Schlafanzug an. Sie sah auch aus, als hätte sie mindestens eine Woche nicht geduscht. Karl-Erik fühlte, wie sich Mitleid und Schmerz in seiner Brust verbanden. Sein armes, kleines, häßliches junges Entlein.
»Wäre Nelly, oder soll ich sagen Großmutter, nicht gewesen, dann hättet ihr wohl nie etwas gesagt, oder? Es wäre euch nie eingefallen zu erzählen, daß meine Mutter nicht meine Mutter ist, sondern meine Großmutter, und daß mein Vater nicht mein Vater ist, sondern mein Großvater, und vor allem, daß meine Schwester nicht meine Schwester gewesen ist, sondern meine Mutter. Können Sie folgen, oder soll ich das Ganze noch mal herunterbeten? Es ist schließlich ein bißchen kompliziert.«
Die maliziöse Frage war an Patrik gerichtet, und es sah beinahe so aus, als würde Julia es genießen, seinen entsetzten Gesichtsausdruck zu sehen.
»Pervers? Nicht wahr?« Sie senkte die Stimme, so als würde sie im Theater soufflieren, und legte den Zeigefinger an die Lippen.
»Aber psst, Sie dürfen es niemandem erzählen. Denn was würden dann die Leute sagen? Man stelle sich nur vor, die würden plötzlich über die feine Familie Carlgren herziehen.«
Jetzt sprach sie wieder lauter. »Aber Gott sei Dank hat Nelly mir im Sommer, als ich in der Fabrik gearbeitet habe, alles erzählt. Hat mir gesagt, was zu wissen mein Recht ist. Wer ich eigentlich bin. Mein Leben lang habe ich mich nicht dazugehörig gefühlt. Habe gespürt, daß ich nicht in die Familie passe. Eine große Schwester wie Alex zu haben war auch nicht leicht, aber ich habe sie vergöttert. Sie war all das, was ich sein wollte, all das, was ich nicht war. Ich habe gemerkt, wie ihr sie angesehen habt und wie mich. Und Alex, die kein nennenswertes Interesse an mir zu haben schien, was mich nur dazu brachte, sie noch mehr anzuhimmeln. Jetzt verstehe ich, weshalb. Sie ertrug es wohl kaum, mich zu sehen. Den Bastard, der aufgrund eines Mißbrauchs geboren wurde, und ihr habt sie gezwungen, sich jedesmal daran zu erinnern, wenn sie mich zu Gesicht bekam. Begreift ihr wirklich nicht, wie grausam das gewesen ist?«
Karl-Erik zuckte zusammen bei ihren Worten, als hätte man ihm eine Ohrfeige verpaßt. Er wußte, daß sie recht hatte. Es war entsetzlich grausam gewesen, Julia zu behalten und Alex auf diese Weise zu zwingen, das schreckliche Ereignis, das ihre Kindheit beendet hatte, wieder und wieder zu erleben. Es war auch Julia gegenüber Unrecht gewesen. Birgit und er hatten es nicht vergessen können, auf welche Weise sie gezeugt worden war. Vermutlich hatte sie das von Anfang an gespürt, denn sie war schreiend zur Welt gekommen und hatte dann während ihrer ganzen Kindheit weitergeschrien und sich der Welt widersetzt. Julia hatte keine Gelegenheit verpaßt, sich unmöglich zu machen, und Birgit und er waren zu alt gewesen, um mit einem so kleinen Kind fertig zu werden, erst recht nicht mit einem so fordernden Kind wie Julia.
In gewisser Weise war es eine Erleichterung gewesen, als sie an einem Tag des letzten Sommers zornentbrannt nach Hause kam und sie mit der Sache konfrontierte. Es hatte sie beide nicht gewundert, daß Nelly Julia die Wahrheit auf eigene Faust erzählt hatte. Nelly war ein böses altes Weib und hatte nur ihre eigenen Interessen im Sinn, und wenn es ihr irgendwie nützen konnte, Julia über die Sache aufzuklären, dann tat sie es. Deshalb hatten sie versucht, Julia davon abzuhalten, den angebotenen Sommerjob zu akzeptieren, aber Julia hatte, eigensinnig wie immer, ihren Kopf durchgesetzt.
Als
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