Die Eisprinzessin schläft
Julia die Wahrheit eröffnet worden war, hatte sich ihr eine neue Welt erschlossen. Zum erstenmal gab es jemanden, der sie wirklich haben, der zu ihr gehören wollte. Obwohl Nelly ja auch Jan hatte, zählten für sie vor allem Blutsbande, und sie hatte Julia gesagt, daß sie an dem Tag, wenn es soweit wäre, ihr Vermögen erben würde. Karl-Erik verstand durchaus, wie sehr das Julia beeindruckte. Sie war voller Zorn auf diejenigen, die sie bisher für ihre Eltern gehalten hatte, und vergötterte Nelly mit derselben Intensität wie früher Alex. All das fuhr ihm durch den Kopf, als er sie in der Türöffnung stehen sah, im Rücken das sanfte Licht aus der Küche. Das Traurige war nur, daß sie nie verstehen würde, daß Birgit und er, obwohl sie beim Anblick von Julia oft an das schreckliche Geschehen in der Vergangenheit denken mußten, sie dennoch wirklich liebten. Aber sie war wie ein fremder Vogel in ihrem Haus, und sie beide hatten sich ihr gegenüber linkisch und hilflos gefühlt. Das war noch immer so, und nun würden sie wohl akzeptieren müssen, daß sie Julia für immer verloren hatten. Physisch befand sie sich zwar noch hier, doch mental hatte Julia sie bereits verlassen.
Henrik sah aus, als würde er kaum Luft bekommen. Er beugte den Kopf zu den Knien hinunter und schloß die Augen. Einen Moment lang fragte sich Karl-Erik, ob es richtig gewesen war, Henrik herzubitten, damit er dabei war. Er hatte es getan, weil er der Meinung war, Henrik verdiente es, die Wahrheit zu erfahren. Auch er hatte Alex geliebt.
»Aber Julia …«
Birgit streckte ihr die Arme in einer unbeholfenen, bittenden Geste entgegen, doch Julia drehte ihr nur verächtlich den Rücken zu, und sie hörten, wie sie die Treppe hinaufstapfte.
»Es tut mir wirklich leid. Mir war klar, daß etwas nicht stimmte, aber das hier hätte ich mir nie vorstellen können. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Patrik hob resigniert die Hände.
»Ja, wir wissen wohl selber nicht richtig, was wir sagen sollen. Vor allem nicht zueinander.« Karl-Erik sah seine Frau forschend an.
»Wie lange fand dieser Mißbrauch statt, wissen Sie das?«
»Wir wissen es nicht genau. Alex wollte nicht darüber reden. Vermutlich zumindest ein paar Monate, vielleicht sogar bis zu einem Jahr.« Er zögerte. »Und hier haben Sie auch die Antwort auf Ihre vorherige Frage.«
»Welche meinen Sie?« fragte Patrik.
»Die über den Zusammenhang zwischen Alex und Anders. Anders war auch eins der Opfer. Am Tag bevor wir wegziehen wollten, fanden wir einen Zettel, den Alex an Anders geschrieben hatte. Daraus ging hervor, daß auch er von Nils ausgenutzt worden war. Offenbar hatten sie irgendwie verstanden oder erfahren, daß sie beide in derselben Situation waren, auf welche Weise, ist mir nicht bekannt, und suchten beieinander Trost. Ich nahm den Zettel und bin persönlich damit zu Vera Nilsson gegangen. Ich habe ihr erzählt, was mit Alex und vermutlich auch mit Anders passiert ist. Das war eins der schwierigsten Dinge, die ich je habe tun müssen. Anders ist, oder war«, berichtigte er sich rasch, »das einzige, was sie besaß. Irgendwo hatte ich wohl gehofft, daß Vera das tun würde, wofür uns der Mut gefehlt hat - nämlich, daß sie Nils anzeigen und er für das, was er getan hatte, zur Verantwortung gezogen würde. Aber nichts geschah, also nehme ich an, Vera war genauso schwach wie wir.«
Unbewußt hatte er angefangen, sich mit der Faust die Brust zu massieren. Der Schmerz nahm ständig zu und strahlte nun bis in die Finger aus.
»Und Sie haben keine Ahnung, wohin Nils verschwunden ist?«
»Nein, überhaupt keine. Aber wo er sich auch befindet, so hoffe ich, daß es diesem Scheißkerl dreckig geht.«
Der Schmerz wuchs jetzt lawinenartig an. Die Finger waren gefühllos geworden, und er begriff, daß etwas nicht stimmte. Ernstlich nicht stimmte. Der Schmerz schränkte sein Blickfeld ein, und obwohl er sah, daß sich die Münder bewegten, war ihm, als würden ihn alle Bilder und Laute nur im Zeitlupentempo erreichen. Einen Moment lang freute er sich, daß der Zorn aus Birgits Augen verschwand, aber als er sah, daß er durch Unruhe ersetzt wurde, begriff er, daß gerade etwas Folgenschweres geschah. Dann brach Dunkelheit über ihn herein.
Nach dem panikartigen Krankentransport saß Patrik jetzt in seinem Auto und versuchte zu Atem zu kommen. Er war dem Rettungswagen im eigenen Fahrzeug gefolgt und bei Birgit und Henrik geblieben, bis sie den Bescheid erhalten
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