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Die Eissphinx

Die Eissphinx

Titel: Die Eissphinx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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hielt er die Eisscholle unverrückbar im Gesichtsfelde des Objectivs. Sein ernsthaftes Gesicht zeigte hier und da hektische Flecken, bleiche Stellen und über seine Lippen kamen unverständliche Worte.
    So verstrichen einige Minuten. Die »Halbrane« war schon nahe dabei, an der Scholle vorüberzusegeln.
    »Um ein Quart abfallen!« befahl der Kapitän, ohne das Fernrohr abzusetzen.
    Ich errieth, was im Gehirn des von einer fixen Idee befallenen Mannes vorging.
    Diese vom südlichen Packeis abgesprengte Scholle kam ja aus den Gebieten, wohin ihn sein Gedanke unablässig zog. Er wollte sie näher sehen… vielleicht sie anlaufen… vielleicht irgend etwas davon mitnehmen….
    Infolge des von Jem West übermittelten Befehls, hatte der Hochbootsmann die Schooten langsam nachschießen lassen, und um ein Quart beigedreht lief die Goëlette nun auf die Eisscholle zu. Bald waren wir nur noch zwei Kabellängen davon entfernt und ich konnte sie jetzt besser erkennen.
    Wie schon erwähnt, schmolz die Erhebung der Mitte von allen Seiten ab. Wasserfäden schlängelten sich an ihren Wänden hinunter. Im September dieses schon frühzeitig warmen Jahres hatte die Sonne bereits die Kraft, die Auflösung alles Eises hervorzurufen und sogar zu beschleunigen.
    Am Ende des Tages war sicherlich nichts mehr von der Scholle übrig, die die Strömungen bis zum fünfundvierzigsten Breitengrade getragen hatten.
    Der Kapitän Len Guy behielt sie noch immer im Auge, ohne jetzt das Fernrohr nöthig zu haben. Allmählich unterschied man auf dem Eise einen fremdartigen Körper, der beim weitern Schmelzen immer mehr zum Vorschein kam – eine Gestalt von dunkler Farbe, die auf dem weißen Untergrunde lag.
    Wie erstaunten, wie erschraken wir aber, als wir erst einen Arm, dann ein Bein, endlich einen Rumpf nebst Kopf hervortreten sahen, kurz eine Menschengestalt, die nicht nackt, sondern noch mit dunkler Kleidung verhüllt war….
    Einen Augenblick glaubte ich gar, daß diese Glieder sich bewegten… daß diese Hände sich gegen uns ausstreckten….
    Die Mannschaft konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken.
    Nein, der Körper bewegte sich zwar nicht, er glitt aber langsam aus seinem eisigen Bette herab.
    Ich sah den Kapitän Len Guy an. Sein Gesicht war so bleich wie das des Leichnams, der aus den hohen Breiten des südlichen Polarmeers hierher verschlagen war.
    Was möglich war, um den Unglücklichen aufzunehmen, geschah ohne Zögern… wer wußte, ob er nicht vielleicht noch ins Leben zurückgerufen werden konnte. Jedenfalls enthielten seine Taschen irgend ein Schriftstück, das seine Persönlichkeit festzustellen erlaubte. Dann würde ein letztes Gebet gesprochen und dieser Ueberrest eines menschlichen Wesens in die Tiefe des Oceans, den Friedhof der auf dem Meere verstorbenen Seeleute, versenkt werden.
    Sofort wurde ein Boot flott gemacht. Der Hochbootsmann nahm darin mit den Matrosen Gratian und Francis Platz und letztere ergriffen die Riemen. Durch Gegenbrassen hemmte Jem West den Lauf der Goëlette, die jetzt fast still lag und sich mit den langen Wellen hob und senkte.
     

    Das Gesicht des Kapitän Len Guy war bleich. (S. 88.)
     
    Mit den Blicken folgte ich dem Boote, das an dem vom Wasser angenagten Rande der Scholle anlegte.
    Hurliguerly betrat sie an einer Stelle, die noch mehr Zusammenhang und Festigkeit zu bieten schien. Gratian stieg mit ihm aus, während Francis das Boot mittelst der Kette eines kleinen Dreggankers festhielt.
    Beide krochen dann mehr nach dem Cadaver hin, zogen ihn, der eine an den Armen, der andre an den Beinen, vollends herab und brachten ihn ins Boot.
    Mit einigen Ruderschlägen gelangten die Leute wieder nach der Goëlette. Der vom Kopf bis zu den Füßen steinhart gefrorene Leichnam wurde nahe dem Fockmast niedergelegt.
    Sofort ging der Kapitän Len Guy auf ihn zu und betrachtete ihn aufmerksam, als ob er den Mann zu erkennen suchte.
    Es war ein mit groben Stoffen bekleideter Seemann mit wollenen Beinkleidern, einer Jacke aus dickem Gewebe, einem Hemd aus dichtem Molton und mit einem Gürtel, der seine Taille zweimal umschlang. Offenbar war er schon seit mehreren Monaten todt… vielleicht schon bald nachher gestorben, als der Unglückliche auf der Scholle fortgetrieben worden war. Der Mann, den wir an Bord genommen hatten, konnte nicht älter als vierzig Jahre sein, trotz seines schon grau gesprenkelten Haars. Seine Magerkeit war erschreckend – ein Skelett, an dem die Knochen fast durch die Haut

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