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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Buder
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Alice schüttelte ungläubig den Kopf. Ihr Tod war noch zehn Schritte entfernt, und er kam durch ihren Lehrer, der ihr noch vor zwei Jahren ein Fleißbildchen mit dem Ulmer Münster gegeben hatte, weil sie ihr Heft so schön geführt hatte. Ohne Tintenflecken, mit ihrer kindlichen Schrift und kleinen Zeichnungen am Rand. Was sauber im Heft ist, ist sauber im Kopf. Lehmko war voll von Lebensweisheiten und Philosophie gewesen, mit denen die wenigsten ihrer Klassenkameraden etwas anfangen konnten. Mit dem Höhlengleichnis Platons konnte auch Tom nichts anfangen. »Völlig space«, hatte er in der Pause zusammengefasst, »das Zeug mit den Typen, die ihr Leben in der Höhle eingesperrt waren und die ihre Schatten für reale Gestalten hielten.« Danndie Ausflüge in den Wald, als Lehmko ihnen erklärt hatte, wie jedes Lebewesen ums Überleben kämpfte. Jetzt war sie es, die nur eines wollte: leben.
    Acht Schritte. Sein Gesicht verschwamm hinter dem dichten Schneegestöber. Sieben, sechs … Sie konnte Lehmkos zufriedenen Gesichtsausdruck sehen.
    Alice machte einen Schritt vom Weg. Ihr Bein rutschte, dann sank die Ferse ein. Der Schnee verhinderte, dass sie weiterrutschte. Sie war leicht, und solange sie nicht in Bewegung geriet, war alles in Ordnung. Das Gewicht auf den Bergfuß verlagern.
    »Hier ist Endstation, Alice«, rief Lehmko. Der Wind verzerrte seine Stimme. Alice war jetzt nur noch zwei Schritte von der Kante entfernt. Im Mai standen hier die Schleifenblumen mit ihren weißen Köpfen. Nur nicht rutschen!
    »Wir können hier jetzt warten, bis du dort erfrierst, oder du kommst her, und ich lasse dich einschlafen. Ganz sanft. Du spürst nichts, glaub mir.«
    Lehmko hatte einen warmen Anorak an und Winterstiefel. Er konnte einfach warten. Doch er schien nervös zu sein. Er tastete sich vorsichtig über den Weg auf die Schräge vor. Seine Stiefel drückten fest in den Schnee.
    »Warum machst du es dir so schwer?« Seine Stimme klang jetzt bedrohlich näher. »Du kannst nichts mehr daran ändern. Du kannst nur noch entscheiden, wie es geschehen soll. Der Tod ist nicht schlimm. Wir müssen alle sterben, früher oder später.«
    Sein Standbein rutschte leicht. »Verdammtes Miststück, komm jetzt her«, zischte er.
    Alice bewegte sich nicht. Sie grub ihre klammen Finger in den Schnee, bis sie etwas Hartes spürte. Eine Wurzel oder einen gefrorenen Erdklumpen. Was es auch war, es verschaffte ihr mehr Halt als der lockere Schnee.
    Lehmko keuchte. »Du musst verstehen, dass ich dich nicht leben lassen kann. Nicht nach alldem, was du weißt. Und dann habt ihr auch noch die Beichte belauscht … Du und dein degenerierter Freund, ihr seid zu weit gegangen. Ihr habt in den Geheimnissen anderer gestöbert. Das ist verboten … Geheimnisse sind heilig … Briefgeheimnisse, Beichtgeheimnisse, Bankgeheimnisse … Darauf steht … die Todesstrafe. Wenn ich dich leben lasse, dann erzählst du es irgendwann deinem Vater oder diesem neugierigen Kommissar, der anfängt, Fragen zu stellen. Deshalb muss ich die Realität korrigieren. Es ist wichtig, dass niemand …« Lehmko hatte den Satz nicht ausgesprochen, als sein Standbein wegrutschte. Die Spritze entglitt seinen Fingern und fiel vor Alice in den Schnee. Lehmko fiel mit dem Rücken auf harschen Eisboden. Die lockere Schneeschicht über dem Eis rutschte über die Kante. Stöhnend rappelte er sich wieder auf. Sein Gesicht war eine Fratze des Hasses. Alice fühlte Lehmkos Finger an ihrem Fußgelenk.
    »Korrektur …« Das war alles, was aus seinem Mund kam, als sein schwerer Körper auf dem Schnee in Bewegung geriet. Plötzlich fühlte sie den Druck an ihrem Fußgelenk. Je weiter Lehmko abrutschte, desto fester wurde sein Griff um ihren Fuß.
    Sie versuchte, ihr Bein anzuziehen, doch Lehmko war zu schwer. Ihre Finger klammerten sich um die Wurzel unter dem Schnee. Mit der anderen Hand griff sie nach der Spritze vor ihr. Ihre Finger waren so klamm, dass sie sie kaum mehr schließen konnte. Mit ihren Zähnen zog sie die Plastikhülle von der Nadel und schlug mit der Spritze in die Richtung, wo ihr Fußgelenk war. Lehmko schrie kurz auf, als er die abgebrochene Nadel in seiner Hand sah, und erst zwei Sekunden später begriff er, dass er losgelassen hatte und sein Körper ins Rutschen geraten war. Alice sah nur die hasserfüllten Augen, wie sie im Schneegestöberverschwanden und wie dann jenseits der Kante nichts mehr war als Stille.
    Sie zog sich auf den Weg zurück. Auf dem Weg fand sie

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