Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Ferne auf die Alpklinik. Unzählige Fenster unter einem schwarzen Dach wie ein lauerndes Insekt.
21.
Tote Autoren … tote Mutter, die Patientin ist stark selbstmordgefährdet. Einweisung … Suizidale Krise bei reaktiver Depression: so würde es im Überweisungsschein stehen.
Alice hatte dem Psychiater schon zu viel erzählt. Sie hatte bemerkt, dass Schreber sich Notizen machte, als sie geantwortet hatte, dass sie nur zu toten Autoren eine besondere Beziehung habe. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für den Psychiater.
Wieder ein Schritt näher an die Gummizelle, Elektroschocks, Schlafentzug. Sie hatte gelesen, dass man noch in den achtziger Jahren Menschen Teile des Gehirnes entfernt hatte, die sozial auffällig waren. Es reichte schon, wenn man Kommunist war oder einfach nur die Angewohnheit hatte, am Sonntag vor das Haus zu treten und lauthals zu schreien. Sie stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn man nur noch die Hälfte seines Gehirns hatte. Sie würde mit Amalia stundenlang bei C&A oder beim Friseur verbringen, sie würde dann plötzlich eine Vorliebe für tief greifende Telefongespräche entwickeln, die sich um dieperfekte Oberweite oder Fettabsaugen drehen. Sie würde kein Bild von Wittgenstein in ihrem Zimmer haben, sondern Unterwäscheposter von Georg Clooney, und sie würde Bücher hassen. Buchstaben wären ihr ein Graus. Sie wäre dann wie Amalia, sie wäre dann wie ein Großteil der Menschen.
Alice hatte eine dunkle Ahnung: Die Welt wurde nicht von Logik regiert. Aus diesem Grund kam Wittgenstein überhaupt erst auf die Idee, ein Buch zu schreiben, das Denkknoten auflösen sollte. Und Denkknoten steckten hinter Kriegen, Wirtschaftskrisen und Morden. Alice wurde schlecht bei dem Gedanken, dass sie, ohne es zu wissen, bald zu all denen gehörte, die man wegsperren würde. Wenn sie nicht den Beweis bringen konnte, dass ihre Mutter ermordet wurde, dann mordete der Serienmörder von Hintereck weiter, und sie würde in der Irrenkartei einer Klinik geführt. Nette Aussichten. So weit durfte es nicht kommen.
Hätte sie Schreber erzählt, dass der 1951 verstorbene Philosoph Wittgenstein in Hintereck auftauchte und dass es da einen alten Mann in einer unmodernen Skimontur am Lift gab, der mit seinem Skistock »Aristoteles« in den Schnee geschrieben hatte, und dass sie die Einzige war, die die toten Philosophen sah, dann wäre ihr Schicksal besiegelt.
Ihr Vater war noch nicht zurück. Die Sprechstundenhilfe war im Behandlungsraum. Eine bessere Gelegenheit gab es nicht. Alice schlich auf Zehenspitzen über das Parkett. Die Bretter knarrten verräterisch. Durch die Doppeltür kam kein Laut. Damit hatte die Giftspinne von Sprechstundenhilfe nicht gerechnet. Sie dachte, dass sie Alice eingeschüchtert hatte. Aber warum sich entschuldigen? Sie war alt genug, um von einer Lawine verschüttet oder von einem Autofahrer totgefahren zu werden, also war sie auch alt genug, um bestimmen zu können, wohin sie ging. Dass ihr Vater sie in die Klinik stecken konnte, war einVerbrechen gegen Wittgenstein, gegen die Menschlichkeit, gegen jede Kreatur, die nichts anderes wollte, als auf dieser verkorksten Welt zu überleben.
Alice suchte die Adresse heraus, die ihr Tom aufgeschrieben hatte. Sie aktivierte vorsichtshalber ihr Handy. Wenn ihr Vater in die Praxis kam und sie nicht mehr da war, dann konnte sie ihm wenigstens erklären, dass sie einen Spaziergang machte. Ihr würde schon was einfallen.
Residenzplatz 1-3. Die Redaktion des Allgäuer Blattes war unspektakulär. Ein Messingschild, eine Klingel. Ohne zu zögern, drückte Alice mehrmals den Knopf. In der Rufanlage schepperte ihr eine Stimme entgegen: »Jaaa?«
»Ich möchte mit Herrn Mulder sprechen.«
»Mit dem Mulder?«
Alice sah noch einmal auf den Zettel. »Jakob Mulder. Lokalredaktion des Allgäuer Blattes. Er arbeitet doch hier?«
Eine Pause entstand. Wenn Tom sich getäuscht hatte? Wenn es gar keinen Jakob Mulder gab? Tschhhhliiiiiig, die Tür wurde geöffnet. Alice war über das komische Geräusch überrascht. Wahrscheinlich war das Schloss eingefroren. Es roch muffig nach Linoleum und Fertigküche. Auf dem Treppenabsatz stand ein junger Mann mit Brille, der überrascht wirkte, als er Alice sah. Er nahm seine Brille ab und machte Licht im Flur, als versuchte er damit eine optische Täuschung aufzulösen. Und die optische Täuschung war Alice, eine Elfjährige in Moonboots, rotem Anorak und Skimütze in Katzenform. Alice setzte ihr
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