Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Vermutung geäußert?«
»Sie arbeiten schlampig, sind unterbesetzt und schlecht bezahlt. Fragen Sie meinen Vater, er ist bei der Polizei.«
»Ich weiß, aber ich meine, du müsstest dich doch fragen, warum du die Einzige bist, die an eine solche Theorie glaubt?«
»Weil ich mehr Zeit habe, um genauer hinzuschauen, und weil es meine Mutter war, die tot im Schnee lag.«
»Du findest es nicht seltsam, dass weder dein Vater, der Polizist ist, noch die ermittelnden Behörden an ein Gewaltverbrechen glauben?«
»Alle unbewiesenen Mordfälle beruhen auf Vermutungen. Das macht aus den Ermittlern aber noch keine Irren.«
»Du bist aber keine Ermittlerin.«
»Meinen Sie, wenn ich eine Polizeimarke hätte und eine Pistole, dann wäre meine Vermutung plötzlich glaubwürdiger?«
»Ich glaube, dass du dann nicht zu so einer Vermutung gelangt wärst.«
»Was für eine tolle Schlussfolgerung, Herr Psychiater. Sie können meine Theorie nicht widerlegen noch bestätigen, sagen aber, ich hätte sie nicht, wenn ich ein offizieller Ermittler wäre. Kurz, ich bin unglaubwürdig, weil ich ich bin.«
»Und hast du eine Vermutung, wer der Täter ist?«
»Ein Serienmörder.«
»Natürlich, ein Serienmörder, hier im Allgäu. Und auf diese Idee ist nur ein elfjähriges Mädchen gekommen, und die Kripo besteht hier nur aus lauter unfähigen Deppen. Keinem ist bisher aufgefallen, dass hier ein Serienmörder am Werk ist.«
»Richtig. Er stellt es äußerst geschickt an. Es sieht aus, als wären die Opfer alle durch einen Unfall ums Leben gekommen. Die Orte sind verstreut, es besteht keine Verbindung zwischen den Opfern. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick.«
»Und was für eine Verbindung haben die Opfer?«
Alice glaubte einen Unterton in der Stimme des Arztes herauszuhören. Etwas in ihr warnte sie, kein Wort mehr zu sagen. Erst glaubte ihr der Arzt nicht, und plötzlich interessiert er sich für den Fall.
»Es ist noch zu früh, um darüber zu reden. Sie verstehen, ich möchte die Ermittlungen nicht gefährden.«
Der Arzt nickte. Sein überhebliches Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden.
»Natürlich die Ermittlungen …«
»Was soll ich deiner Meinung nach deinem Vater erzählen?«
»Ich kann doch nicht an Ihrer Stelle denken. Erzählen Sie die Wahrheit.«
»Die wäre?«
»Nun, dass ich eine Vermutung habe, die sie weder widerlegennoch bestätigen können, und dass er sich beruhigen kann. Seine Tochter ist nicht verrückt.«
»Das glaube ich auch nicht, aber einen Grund zur Sorge gibt es trotzdem.«
Alice hatte schon mit dem Gespräch abgeschlossen, als sie der letzte Satz des Arztes zusammenzucken ließ … Sorge gibt es trotzdem.
»Wenn Sie logisch denken, dann gibt es kein Problem«, sagte sie. Eine Antwort, die Wittgenstein nicht besser hätte geben können.
»Logisch gesehen vielleicht, aber mir bereitet der nicht-logische Teil von Alice Sorgen.«
»Ich hatte Sie für einen Wissenschaftler gehalten.«
»Ich bin ein Wissenschaftler, Alice, und ich habe viel Erfahrung mit Kindern. Das kannst du mir glauben. Und ich kann dir sagen, du legst nicht das Verhalten einer normalen Elfjährigen an den Tag.«
»Ich bin einfach besonders …«
Genau diese Antwort war falsch. Alice bemerkte es im Gesicht des Psychiaters. Das Signalwort, auf das er gewartet hatte. »Besonders« – das hieß so viel wie andersartig, das hieß so denken wie alle: oberflächlich, banal. Jenseits der Welt eines Serienmörders. Sie ahnen nicht, dass er unter ihnen lebt. Erst dann, wenn sie selbst eingefroren dastehen. Tot, ein noch zusammengefügter Körper, der sich auflösen wollte. Dann war alles zu spät.
»Ich finde die Idee gar nicht so schlecht, dass du eine Woche in unserer Kinderklinik verbringst. Du hast in der Alpklinik die beste Betreuung. Und nach dieser Woche sehen wir weiter …«
Sehen wir weiter …
Das abschließende Lächeln war kalt. Schreber hatte von Anfang an vorgehabt, sie einzuweisen, mit der Erlaubnis ihres Vaters.Erwachsene konnte man nur einweisen, wenn sie eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellten oder für sich selbst. Wer mit elf nicht mit Puppen spielte oder auf Nintendo New Super Mario Bros. abfuhr, der war verdächtig. Die Zeit wurde knapp. Sie hatte das undeutliche Gefühl, dass man sie aus dem Verkehr ziehen wollte. Das durfte nicht geschehen, auf keinen Fall. Warum war in solchen Momenten Wittgenstein nie da?
Durch das breite Fenster hinter dem Schreibtisch Schrebers blickte sie aus der
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