Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Begabung.«
»Was war es dann, wenn es kein Mensch war?«
»Ein Spektre, eine Idee, oder manchmal nennt man in einigen Religionen solche Gestalten Dämonen. Ein Dämon ist ein Vermittler zwischen der hiesigen realen Welt und der jenseitigen göttlichen Welt. Aber diese Aufteilung ist eine menschliche Vorstellung. Ein Denkkonstrukt. In Wirklichkeit gibt es keine Aufteilung, sondern nur eine Welt. Aber diese eine Welt ist komplexer. Es gibt viele Realitäten darin. Die körperliche und die Welt der Ideen. Darin findest du alles: Pläne, wie die Evolution abläuft, Prozesse kosmischer Veränderungen. Das sind die Strukturen, nach denen das Universum geschaffen wurde. Darüber kann man kaum etwas sagen. Wir haben keinen Zugang zu dieser Welt, nicht direkt … Dann gibt es die Welt menschlicher Ideen. Die Menschheitsgeschichte ist ein Ergebnis dieser Ideen.«
»So ähnlich wie Computersoftware und Hardware. Die Rechner mit ihren Platinen sind zwar notwendig als Körper, aber entscheidend sind die Programme. Die Software …«
»Ideen, Software oder Gedanken, du kannst es nennen, wie du willst. Die Philosophie ist ein Teil dieser Geisterwelt. Die Philosophen sind die Architekten der geistigen Welt. Sie konstruieren die Menschheit seit Jahrtausenden. Zivilisationen, Staaten, Justiz, Gesellschaft, Kultur, all das existiert erst durch die Philosophie. Und weit vorher, als man Philosophie noch gar nicht kannte, noch vor den alten Griechen, gab es Denker, von denen nichts mehr überliefert ist außer den Menschen und die Art, wie sie lebten und dachten.«
»Die Menschen, ihre Körper, ihr Leben, das alles ist nur das Fundament … die Hardware, doch darüber gibt es Ideen, die Spektren.«
»So ungefähr. Obwohl das Leben und die Vorstellung von unseren Körpern auch schon wieder eine Idee ist. Auch sie istveränderbar, und wie du erfahren hast, hast du etwas gesehen, was andere nicht sehen konnten, etwas, was es nach der vereinfachten Vorstellung von Realität gar nicht gibt.«
»Wenn aber die Philosophen oder Architekten dieser Welt alles geschaffen haben, warum gibt es dann eine Welt, in der Menschen ermordet werden, in der es Kriege gibt, Massenmorde? Warum gibt es Stechmücken, Magenschmerzen, Krebs und Donnerstage?«
»Weil es nicht viele Philosophen gibt. Nur ein Bruchteil aller Ideen, die den Lauf unserer Menschheitsgeschichte bestimmt haben, haben Philosophen erdacht. Der Großteil kommt von der anderen Seite. Es sind düstere Gestalten. Spektren. Dunkle Architekten des Bösen. Keiner weiß, wie sie in die Welt gekommen sind. Und manchmal sind sie gar nicht als Architekten des Bösen erkennbar. Man erkennt sie nur an den Konsequenzen, an dem, was sie aus den Menschen machen. Was genau sie mit den Menschen machen, wissen wir nicht. Ihre Absicht ist unbekannt. Ihre Namen sind unbekannt. Ihre Werke sind unsichtbar oder versteckt. In Büchern, Gerüchten auf der Straße, politischen Parolen, Trends, Ideologien, Religionen … Worte zwischen den Zeilen. Bruchstücke, Wortfetzen, gewisse Satzkombinationen, die Besitz von den Menschen ergreifen.«
»Haben Sie nicht gesagt: Wovon man nicht reden kann, darüber soll man schweigen?«
»Das dachte ich lange. Inzwischen weiß ich, dass es jenseits unseres Denkens Dinge gibt, die wir nicht begreifen können. Aber in einer gewissen Weise reden wir über sie, wenn wir schweigen.«
»Doch was hat das mit mir zu tun?«
»Es gibt Menschen, die sind empfänglich … Sie haben Zugang zu der Welt der Spektren. Doch nicht nur diese Menschen haben Zugang. Sie sind auch gleichzeitig ein Tor für die Spektren in diese Welt.«
»Gerade haben Sie gesagt, dass es nur eine Welt gibt.«
»Mit vielen Realitäten, die nicht miteinander verbunden sind. Es gibt nur einige Stellen, wo sich die Welten überschneiden.«
»Das sollen Menschen wie ich sein. Deshalb kann ich Sie sehen, obwohl Sie schon über ein halbes Jahrhundert tot sind.«
»Wir Philosophen sind nie tot … nur sichtbar sind wir nicht mehr.«
»Und wer sagt mir eigentlich, dass ich nicht ein Fall für die Klapsmühle bin? Dass ich Sie nur deshalb sehe, weil ich einen Hirnschaden habe? Wenn mein Vater recht hat und ich verrückt bin? Sie sind tot, und trotzdem sehe ich Sie und unterhalte mich mit Ihnen. Das ist schon ganz schön durchgeknallt. Wer beweist mir, dass ich nicht schlafe und einen irren Traum träume?«
»Zwicken …«
Alice zwickte sich in den Unterarm. Es tat weh, niemand anderes schrie, und sie spürte den
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